Der letzte Brief
Briefe berühmter Menschen
Der letzte Brief: der königliche aller Briefe. Sein Aroma
ist köstlich.
Was sonst in armseliger Verteilung aus Briefen blüht:
Genialität des Denkens, Glaubens Liebens– im letzten Brief wird er zu
einer Synthese.
Sein Pathos ist unerhört- aber sein Ethos wächst darüber hinaus.
Beide –Pathos und Ethos – werden aufgenommen in die hohe Stimme einer
nie zu
entwirrenden Mystik.
Es ist das Schicksal der letzten Takte der neunten Symphonie, die
eingehen in die
Seligkeit eines metaphysischen Soprans. ....
Ilse Linden/ Der letzte Brief Eine
Sammlung letzter Briefe
Herausgegeben von Ilse Linden /Erschienen bei Oesterheld & Co Verlag
Berlin 1919
ILIAS KANARIS
1911- 1943
Der Unteroffizier der königlichen griechischen Marine organisierte an der Küste
von Euböa den Widerstand gegen die deutschen Besatzer, versteckte Flüchtlinge
und verhalf ihnen mit einem eigens beschafften Schiff zur Flucht nach Ägypten.
Nach einer Denunziation wurde er von der Gestapo gefasst und gefoltert, vom
deutschen Kriegsgericht in Athen verurteilt und mit fünf Kameraden hingerichtet.
Dienstag, 6. Januar 1943
Mein lieber Sohn Kosta!
Wenn Du diese wenigen Zeilen liest, bin ich, mein Sohn, nicht mehr am Leben,
weil mich die Deutschen getötet haben werden. Sie haben mich dreifach zum Tode
verurteilt und zu drei Jahren Kerker. Mein Sohn, mein Bübchen, ich lasse Dich
zurück als eine Waise von zwei Jahren, mein starker Bub, Du, den ich so sehr
liebte, aber ich hatte nicht das Glück, mich Deiner zu freuen und mit Dir
Verstecken zu spielen, wie ich sonst mit Dir gespielt hatte. Wenn Du ein großer
Junge bist, wirst Du diesen letzten Brief lesen, ich möchte, Du sollst Dich
Deines Vaters erinnern und der Ratschläge, die ich Dir geben werde, mein
tüchtiges Kerlchen, mein kleiner Palikari, mein geliebter Sohn.
Ich will, daß Du mehr als mich Deinen Paten liebst, denn er liebt Dich sehr und
er nimmt sich Deiner an. Achte ihn und höre auf ihn, er ist Dein Vater und der
Vater von uns allen und das Haupt unserer Familie.
Liebe Deine Mutter, Deine Tante Lulu, Deine Tante Andro und Deinen Onkel
Cristoforos. Mein Sohn, spiele nie Karten, betrage Dich gegen keine Frau
schlecht in Deinem Leben und sei ehrlich, aufrichtig und wahrheitsliebend. Liebe
unser Vaterland und sei ein guter Christ. Mein Kosta, mein Söhnchen, ich
hinterlasse Dir nichts, weil ich nichts habe.
Ich lasse Dich in guten Händen, die Dich lieben und für Dich sorgen werden. Mein
Kosta, Du mußt mir verzeihen, daß ich Dich klein und als Waise verlassen habe.
Ich will, daß Du immer für mich betest, mein Knäbchen, denn sie haben mich
verurteilt, weil ich zwei Radios hatte und Sendungen durchgab und einer
Organisation angehörte und den Engländern zur Flucht verhelfen habe und einen
Revolver hatte und versuchte, ihren Dolmetscher zu erwürgen, und viele andere
Dinge, und ich trieb Spionage.
Mein Knäbchen, ich sterbe als Palikari mit Deinem Namen auf den Lippen und
sterbend rufe ich: es lebe England, es lebe Griechenland, es leben unsere
Alliierten. Mein Söhnchen, mein Bübchen, mein Palikari, verzeihe mir, daß ich
Dich als Waise zurücklasse.
Ich sterbe als Palikari.
Leb wohl, leb wohl, leb wohl, mein Bravchen. Ich küsse Dich zärtlich.
Dein Vater
Ilias Kanaris
STARTSEITE /INDEX
___________________________
Dies sind nun also
die letzten Zeilen Werner Fuld/ Krüger Verlag 2007
|