Der letzte Brief
Briefe berühmter Menschen
Der letzte Brief: der königliche aller Briefe. Sein Aroma
ist köstlich.
Was sonst in armseliger Verteilung aus Briefen blüht:
Genialität des Denkens, Glaubens Liebens– im letzten Brief wird er zu
einer Synthese.
Sein Pathos ist unerhört- aber sein Ethos wächst darüber hinaus.
Beide –Pathos und Ethos – werden aufgenommen in die hohe Stimme einer
nie zu
entwirrenden Mystik.
Es ist das Schicksal der letzten Takte der neunten Symphonie, die
eingehen in die
Seligkeit eines metaphysischen Soprans. ....
Ilse Linden/ Der letzte Brief Eine
Sammlung letzter Briefe
Herausgegeben von Ilse Linden /Erschienen bei Oesterheld & Co Verlag
Berlin 1919
ROSE SCHLÖSINGER
1907 - 1943
Geboren 1907, am 18. September
1942 wegen Zugehörigkeit zu einer Widerstandsgruppe verhaftet, hingerichtet am
5. August 1943. Ihr Mann, Bodo Schlösinger, Dolmetscher bei der deutschen
Feldpolizei, hat sich in einem russischen Bauernhaus erschossen, als er hörte,
daß seine Frau zum Tode verurteilt worden war.
Brief an ihr Töchterchen Meine liebe kleine große Marianne!
Ich weiß nicht, wann Du diesen Brief lesen wirst. Ich überlasse es Oma oder
Vati, ihn Dir zu geben, wenn Du groß genug dafür bist.
Jetzt muß ich Abschied nehmen, weil wir uns wahrscheinlich nie mehr sehen.
Du sollst trotzdem ein gesunder, froher und starker Mensch werden.
Ich wünsche Dir, daß Du in der Welt so wie ich das Schönste erlebst, ohne daß Du
das Schwere durchmachen mußt wie ich.
Du sollst zuerst danach streben, tüchtig und fleißig zu werden, dann wird alles
andere Glück von selbst kommen. Lebe nicht zu verschwenderisch mit Deinen
Gefühlen.
Es gibt nicht viele Männer, die so sind wie Vati, so gut und rein in ihrer
Liebe. Lerne warten, ehe Du Deine ganze Liebe verschenkst — es bleibt Dir dann
das Gefühl des Betrogenseins erspart. Aber einen Mann, der Dich so liebt, daß er
auch alle Not und jede Schwierigkeit mit Dir teilen wird und für den Du dasselbe
tun kannst, den kannst Du lieben -und glaube mir, dann wirst Du durch das Glück
mit ihm für das Warten belohnt.
- Ich wünsche Dir so viele, viele Jahre des Glücks, wie ich es leider nur ein
paar Jahre haben konnte.
Und dann sollst Du Kinder haben - wenn man Dir Dein erstes Kind in den Arm legt,
vielleicht denkst Du dann an mich, daß es auch ein Höhepunkt meines Lebens war,
als ich Dich kleines rotes Bündel zum erstenmal hielt und dann denk an die
Abende, als wir uns im Bett unterhielten über die vielen wichtigen Dinge des
Lebens - ich versuchte Deine Fragen zu beantworten - und denk an die schönen
drei Wochen an der See - an den Sonnenaufgang, und als wir am Strand entlang
barfuß von Bansin nach Ückeritz liefen, und als ich Dich auf dem Schlauch vor
mir her trieb, und als wir zusammen Bücher lasen — so viel Schönes hatten wir
zusammen, mein Kind, das sollst Du alles auch noch einmal erleben und noch viel
mehr.
Und noch eins will ich Dir verraten. Wenn man sterben muß, tut einem jedes böse
Wort leid, das man einem lieben Menschen gegeben hat; wenn man weiterleben
dürfte, würde man sich das merken und sich viel besser beherrschen.
Vielleicht kannst Du Dir das merken - Du machst Dir und anderen das Leben und
später auch das Sterben leichter. Und sei froh, so oft Du kannst - jeder Tag ist
kostbar, es ist schade um jede Minute, die man traurig zugebracht hat.
Meine Liebe zu Dir soll Dich Dein ganzes Leben lang begleiten. - Ich küsse Dich
- und alle die lieb zu Dir sind. Leb wohl, mein Liebes - bis zuletzt denkt mit
größter Liebe an Dich
Deine Mama
STARTSEITE /INDEX
___________________________
Literatur: Du hast
mich heimgesucht bei Nacht
Abschiedsbriefe und Aufzeichnungen des Widerstandes 1933 -1945
Herausgegeben von Helmut Golwitzer, Käthe Kuhn, Reinhold Schneider
|