DER LETZTER BRIEF AUS STALINGRAD
Diese Briefe wurden im Januar 1943 mit der letzten Frachtmaschine aus dem
Kessel von Stalingrad nach Nowotscherkassk befördert. Auf Befehl wurden
sie beschlagnahmt. Die Anschriften und Absender unkenntlich gemacht und
nach Inhalt und Tendenz geordnet. Darnach dem Oberkommando der Wehrmacht
übergeben. Goebels plante mit diesen Briefen eine Sammlung des heroischen
Durchhaltewillens zu veröffentlichen. Die Statistik zeigte nun, dass nur
ein kleiner Prozentsatz der Schreiber positiv zum Krieg standen. 57,1
Prozent lehnten den Krieg ab. Goebbels entschloss sich diese Briefe der
Öffentlichkeit zu entziehen und sie wurden im Heeresarchiv Potsdam
gelagert und so gerettet.
Brief I
unbekannt
... Dieses ist für lange Zeit, vielleicht für immer, mein letzter Brief,
und von einem Kameraden, der zum Flugplatz muß, wird er mitgenommen, denn
morgen soll die letzte Maschine aus dem Kessel fliegen. Die Lage ist
unhaltbar geworden, der Russe steht drei Kilometer vor der letzten
Flugbasis, und wenn diese verloren ist, kommt keine Maus mehr heraus und
ich auch nicht. Gewiß, Hunderttausende andere auch nicht, aber es ist ein
schwacher Trost, den eigenen Untergang mit anderen geteilt zu haben. Wenn
es einen Gott gibt. Drüben auf der anderen Seite sagen es auch viele, in
England und in Frankreich sicherlich Millionen. Ich glaube nicht mehr, daß
Gott gütig sein kann, denn sonst würde er ein so großes Unrecht nicht mehr
zulassen. Ich glaube nicht mehr daran, denn sonst hätte Gott die Hirne der
Menschen erleuchtet, die diesen Krieg begannen und immer vom Frieden und
vom Allmächtigen in drei Sprachen redeten. Ich glaube nicht mehr an Gott,
weil er uns verraten hat. Ich glaube nicht mehr, und Du mußt sehen, wie Du
mit Deinem Glauben fertig wirst.
Brief II
unbekannt
... Am Morgen wurde gesagt, daß wir schreiben können. Nur noch einmal,
sage ich, denn ich weiß es genau, daß es das letzte Mal sein wird. Du
weißt, daß ich immer an zwei Menschen, an zwei Frauen geschrieben habe, an
die »Andere« und Dich. Am wenigsten aber an Dich. Ich war weit entfernt
von Dir, und Carola stand mir näher als Du in den letzten Jahren. Wir
wollen das nicht alles wiederholen, wie es kam und warum es so kommen
mußte. Heute jedoch, wo ich vom Schicksal vor die Wahl gestellt werde, nur
noch an einen Menschen schreiben zu dürfen, geht mein Brief an Dich, die
seit sechs Jahren meine Frau ist.
Es wird Dir wohltun, wenn Du erfährst, daß der letzte Brief des Mannes,
den Du liebtest, an Dich gerichtet ist, und ich habe es nicht
fertiggebracht, an Carola zu schreiben und sie zu bitten, Dir Grüße von
mir auszurichten. So bitte ich Dich denn, liebe Erna, in dieser Stunde,
die meinen letzten Willen enthält, sei großmütig und verzeih, was ich Dir
im Leben Unrechtes tat, und gehe zu ihr (sie wohnt bei ihren Eltern) und
sage ihr, daß ich ihr viel verdanke und sie durch Dich, also durch meine
Frau, grüßen lasse. Sage ihr, daß sie mir viel in dieser letzten Zeit
gewesen, und ich hätte oft daran gedacht, was einmal werden sollte, wenn
ich heimkehrte. Aber sage ihr auch, daß Du mir mehr gewesen seiest und daß
ich eigentlich, obwohl tieftraurig, daß es nun keine Heimkehr mehr geben
wird, froh bin, diesen Weg diktiert bekommen zu haben, der uns zu dreien
eine entsetzliche Quälerei erspart hat.
Ob Gott wohl größer als das Schicksal ist? Ich bin ganz ruhig, aber Du
weißt nicht, wie schwer das ist, in einer Stunde alles, was man noch zu
sagen hat, auszusprechen. So viel wäre noch zu schreiben, so unendlich
viel, aber weil es so viel ist, darum muß man verstehen, die Feder nicht
zu lange auf dem Papier zu lassen und den richtigen Zeitpunkt zu finden,
sie aus der Hand zu legen. So wie ich mein Leben jetzt aus der Hand lege.
Von meiner Kompanie sind noch fünf Mann dabei. Wilmsen auch noch. Die
anderen sind schon alle ..., alle zu müde geworden. Ist das nicht ein
schöner Ausdruck für das Grauen? Aber was interessiert das alles jetzt und
was nützt es, wenn Du es weißt! So behalte mich denn als den Menschen in
der Erinnerung, der sich fast ganz am Ende darauf besonnen hat, Dein Mann
zu sein und Dich um Verzeihung zu bitten, und noch mehr, Dich zu bitten,
allen, die Du kennst, auch Carola, zu sagen, daß ich zu Dir in dem
Augenblick zurückgefunden habe, der Dich mir für immer nimmt.
Brief III
Unbekannt
... So nun weißt Du es, daß ich nicht wiederkomme. Bringe es unseren
Eltern schonend bei. Ich bin schwer erschüttert und zweifle sehr an allem.
Einst war ich gläubig und stark, jetzt bin ich klein und ungläubig.
Vieles, was hier vor sich geht, werde ich nicht erfahren; aber das wenige,
das ich mitmache, ist schon so viel, daß ich es nicht schlucken kann. Mir
kann man nicht einreden, daß die Kameraden mit dem Worte »Deutschland«
oder »Heil Hitler« auf den Lippen starben. Gestorben wird, das läßt sich
nicht leugnen; aber das letzte Wort gilt der Mutter oder dem Menschen, den
man am liebsten hat, oder nur dem Ruf nach Hilfe. Ich habe schon Hunderte
fallen und sterben gesehen und viele gehörten wie ich der HJ an, aber sie
haben alle, wenn sie noch konnten, um Hilfe gerufen oder nach einem Namen,
der ihnen doch nicht helfen konnte.
Der Führer hat fest versprochen, uns hier herauszuhauen, das ist uns
vorgelesen worden, und wir glaubten auch fest daran. Ich glaube es heute
noch, weil ich doch an etwas glauben muß. Wenn das nicht wahr ist, woran
sollte ich dann noch glauben? Dann brauchte ich keinen Frühling und keinen
Sommer mehr und nichts mehr, was Freude macht. Laß mir diesen Glauben,
liebe Greta, ich habe mein ganzes Leben oder wenigstens acht Jahre davon
immer an den Führer und sein Wort geglaubt Es ist entsetzlich, wie sie
hier am Zweifeln sind, und beschämend, die Worte zu hören, gegen die man
nichts sagen kann, denn die Tatsachen sprechen für sie.
Wenn es nicht wahr ist, was man uns versprach, dann wird Deutschland
verloren sein, denn in diesem Fall kann kein Wort mehr gehalten werden.
Oh, diese Zweifel, diese furchtbaren Zweifel, wenn sie doch bald behoben
wären!
Brief IV
unbekannt
... Sechsundzwanzigmal habe ich Dir schon aus dieser verfluchten Stadt
geschrieben, und Du hast mir mit siebzehn Briefen geantwortet. Nun
schreibe ich noch einmal, und dann nicht mehr. So, da steht es, ich habe
lange darüber nachgedacht, wie ich diesen inhaltsschweren Satz formulieren
sollte, um alles in ihm zu sagen und doch nicht so weh zu tun.
Ich nehme Abschied von Dir, weil die Entscheidung seit heute morgen
gefallen ist. Ich will in meinem Brief die militärische Seite gänzlich
unberücksichtigt lassen, sie ist eine eindeutige Angelegenheit der Russen,
und die Frage geht nur dahin, wie lange wir noch dabei sind.
Es kann noch ein paar Tage dauern oder ein paar Stunden. Unser
persönliches Leben liegt vor uns. Wir haben uns geachtet und geliebt und
zwei Jahre gewartet.
Es ist schon richtig gewesen, daß die Zeit dazwischen liegt, sie hat zwar
die Spannung auf das Wiedersehen erhöht, aber auch in starkem Maße die
Entfremdung gefördert. Die Zeit ist es, die auch die Wunden meiner
Nichtwiederkehr schließen muß. Du wirst im Januar 28 Jahre alt, das ist
noch sehr jung für eine so hübsche Frau, und ich freue mich, daß ich Dir
dieses Kompliment immer wieder machen durfte.
Du wirst mich sehr vermissen, aber schließe Dich trotzdem nicht ab von den
Menschen. Laß ein paar Monate dazwischen liegen, aber nicht länger. Denn
Gertrud und Claus brauchen einen Vater. Vergiß nicht, daß Du für die
Kinder leben mußt, und mach um ihren Vater nicht viel Wesens. Kinder
vergessen sehr schnell und in dem Alter noch leichter. Sieh Dir den Mann,
auf den Deine Wahl fällt, genau an und achte auf seine Augen und seinen
Händedruck, so wie das bei uns der Fall gewesen ist, und Du wirst Dich
nicht täuschen. Vor allem eins, erzieh die Kinder zu aufrechten Menschen,
die den Kopf hoch tragen und jedem frei ins Angesicht blicken können.
Ich schreibe mit schwerem Herzen diese Zeilen, Du würdest es mir auch
nicht glauben, wenn ich schrieb, daß es mir leicht fiele, aber mach Dir
keine Sorgen, ich habe keine Angst vor dem, was kommt. Sage es Dir immer
wieder, und den Kindern auch, wenn sie älter geworden sind, daß ihr Vater
nie feige gewesen ist und daß sie es nie sein sollen.
... Sechsundzwanzigmal habe ich Dir schon aus dieser verfluchten Stadt
geschrieben, und Du hast mir mit siebzehn Briefen geantwortet. Nun
schreibe ich noch einmal, und dann nicht mehr. So, da steht es, ich habe
lange darüber nachgedacht, wie ich diesen inhaltsschweren Satz formulieren
sollte, um alles in ihm zu sagen und doch nicht so weh zu tun.
Ich nehme Abschied von Dir, weil die Entscheidung seit heute morgen
gefallen ist. Ich will in meinem Brief die militärische Seite gänzlich
unberücksichtigt lassen, sie ist eine eindeutige Angelegenheit der Russen,
und die Frage geht nur dahin, wie lange wir noch dabei sind.
Es kann noch ein paar Tage dauern oder ein paar Stunden. Unser
persönliches Leben liegt vor uns. Wir haben uns geachtet und geliebt und
zwei Jahre gewartet.
Es ist schon richtig gewesen, daß die Zeit dazwischen liegt, sie hat zwar
die Spannung auf das Wiedersehen erhöht, aber auch in starkem Maße die
Entfremdung gefördert. Die Zeit ist es, die auch die Wunden meiner
Nichtwiederkehr schließen muß. Du wirst im Januar 28 Jahre alt, das ist
noch sehr jung für eine so hübsche Frau, und ich freue mich, daß ich Dir
dieses Kompliment immer wieder machen durfte.
Du wirst mich sehr vermissen, aber schließe Dich trotzdem nicht ab von den
Menschen. Laß ein paar Monate dazwischen liegen, aber nicht länger. Denn
Gertrud und Claus brauchen einen Vater. Vergiß nicht, daß Du für die
Kinder leben mußt, und mach um ihren Vater nicht viel Wesens. Kinder
vergessen sehr schnell und in dem Alter noch leichter. Sieh Dir den Mann,
auf den Deine Wahl fällt, genau an und achte auf seine Augen und seinen
Händedruck, so wie das bei uns der Fall gewesen ist, und Du wirst Dich
nicht täuschen. Vor allem eins, erzieh die Kinder zu aufrechten Menschen,
die den Kopf hoch tragen und jedem frei ins Angesicht blicken können.
Ich schreibe mit schwerem Herzen diese Zeilen, Du würdest es mir auch
nicht glauben, wenn ich schrieb, daß es mir leicht fiele, aber mach Dir
keine Sorgen, ich habe keine Angst vor dem, was kommt. Sage es Dir immer
wieder, und den Kindern auch, wenn sie älter geworden sind, daß ihr Vater
nie feige gewesen ist und daß sie es nie sein sollen.
Brief V
unbekannt
... Ich habe Deine Antwort in Händen. Einen Dank wirst Du wohl nicht
erwarten.
Dieser Brief wird kurz sein. Ich hätte es mir denken können, als ich Dich
bat, mir zu helfen. Du warst und bleibst ein ewig »Gerechter«. Mama und
mir war das nicht unbekannt. Aber man konnte ja nicht annehmen, daß Du
Deinen Sohn der »Gerechtigkeit« zum Opfer bringen würdest.
Ich bat Dich, mich herauszuholen, weil dieser strategische Unsinn nicht
Wert ist, für ihn ins Gras zu beißen. Es wäre Dir ein leichtes gewesen,
ein Wort für mich einzulegen, und ein entsprechender Befehl hätte mich
erreicht. Du bist über die Lage nicht im klaren.
In Ordnung, Vater.
Dieser Brief ist nicht nur kurz, sondern auch der letzte, den ich Dir
schreibe. Ich werde keine Gelegenheit mehr zum Briefschreiben haben,
selbst dann nicht, wenn ich wollte. Es wäre auch nicht auszudenken, daß
ich Dir noch einmal gegenüberstehen sollte und Dir sagen müßte, was ich
denke. Und weil weder ich noch ein weiterer Brief zu Dir sprechen werden,
rufe ich Dir Deine Worte vom 26. Dezember noch einmal ins Gedächtnis
zurück: »Du wurdest freiwillig Soldat, es war leicht, im Frieden unter der
Fahne zu stehen, aber schwer, sie im Kriege hochzuhalten. Du wirst dieser
Fahne treu bleiben und mit ihr siegen.
« Diese Worte haben klarer gesprochen als Deine Gesamthaltung der letzten
Jahre. Du wirst Dich an sie noch erinnern müssen, denn es kommt für jeden
einsichtigen Menschen in Deutschland die Zeit, in der er den Wahnsinn
dieses Krieges verflucht, und Du wirst einsehen, wie hohl die Worte von
der Fahne sind, mit der ich siegen sollte.
Es gibt keinen Sieg, Herr General, es gibt nur noch Fahnen und Männer, die
fallen, und am Ende wird es weder Fahnen noch Männer geben. Stalingrad ist
keine militärische Notwendigkeit, sondern ein politisches Wagnis. Und
dieses Experiment macht Ihr Sohn nicht mit, Herr General! Sie versperrten
ihm den Weg ins Leben, er wird den zweiten Weg in der entgegengesetzten
Richtung wählen, der auch ins Leben führt, aber auf der anderen Seite der
Front. Denken Sie an Ihre Worte und hoffentlich werden Sie, wenn der Kram
zusammenbricht, sich der Fahne erinnern und zu ihr stehen.
Das Buch der deutschen Briefe herausgegeben von Walter Heynen Insel Verlag
1957