DANZ HERMANN
1906- 1945
38 Jahre alt - Messerschmied - geboren am 18. Oktober 1906
in Schmalkalden (Thüringen). - Von Jugend an Mitglied der
Arbeiterbewegung; begab sich mit 23 Jahren in die Sowjetunion, wo er als
Lehrer und Dolmetscher und dann all Übersetzer und Ansager am Radio Moskau
arbeitete - kehrte 1933 in sein Vaterland zurück, um eine antinazistische
Tätigkeit zu entfalten - im November 1933 verhaftet - 1936 freigelassen,
nahm er den Kampf sogleich wieder auf - Verbund sich mit der Gruppe «Saefkow»
- wurde Haupt der kommunistischen Partei des Kreises Magdeburg. - 1944 zum
zweilen Mal verhaftet - in das Potsdamer Gefängnis verbracht.
- Am 1. November 1944 verurteilt und am 5. Februar 1945 hingerichtet.
Mein liebes Mädchen!
Nur wenige Tage trennen mich von dem Urteilsspruch, nicht aber von der
Entscheidung. Diese fiel am Tage meiner Verhaftung, Als ich in Potsdam
«vernommen» worden war, wusste ich, dass das Todesurteil nur noch durch
besondere Ereignisse abgewendet werden konnte. Meine Hoffnung auf solche
war gering, und so stellte ich mich von Anfang an auf den Tod ein. Nun
steht er unmittelbar bevor.
Es ist ein sehr eigentümliches Gefühl, in einer engen Zelle zu sitzen,
getrennt von allem, was einem lieb und teuer ist auf dieser Erde, und zu
wissen: Nie wieder wird es werden, wie es war. Hinter allen Gedanken, die
sich mit Vergangenheit und Zukunft beschäftigen, steht das unerbittliche
«Nie wieder»! Ich sah, wie die Sonne täglich langsam sank und wusste, nie
wieder werde ich erleben, dass sie täglich höher steigt.
Als die Weinblätter am Kerkerfenster sich zu färben begannen — zuerst ganz
zart, kaum merkbar, dann täglich mehr und mehr, bis sie schliesslich in
leuchtendem Rot erstrahlten, um zu verblassen und abzufallen —, erschienen
sie mir als ein Symbol meiner Lage. So unerbittlich und unaufhaltsam wie
dieser Prozess des langsamen Absterbens, so unerbittlich verinnt auch
meine Zeit. Noch nie habe ich Blätter in solcher Schönheit sterben sehen,
wie dieses Mal, da es zugleich das letztemal war, dass meine Augen solches
sahen.
Sie sind tot, die Blätter vor meinem Fenster, das letzte ist abgefallen,
und auch meine Stunde ist nun gekommen. Freilich, die Mittler werden
wiederkehren. Schon in "wenigen Wochen beginnen sie zu rüsten, um im
kommenden Frühjahr in strahlender Schöne in die Sonne zu lachen. Alles
wird wieder sein, wie es war. Nur ich werde nicht mehr sein. «Nie wieder!»
Bin ich deshalb verzweifelt? War ich es in den letzten Stunden? Nein! In
dem Masse, in dem die Ueberzeugung wuchs, dass nichts mich retten würde,
wuchs in mir die Kraft, mein Schicksal mit Fassung tragen.
Das Laub muss abfallen und verwesend als Dünger dienen. Nur so kann nettes
Leben wachsen. Und so sind auch wir, die wir für eine schöne und bessere
Zukunft sterben, nichts als es ist ein hartes Wort — Kulturdünger.
Ohne unser Sterben kein neues Leben, keine Zukunft. Noch steckt die
Menschheit tief im Tierreich und die Gesetze ihrer Fort- und
Höherentwicklung sind noch dieselben wie dort.
Es ist ein grausamer Kampf, in dem das Bessere sich nur durch Ströme von
Blut durchsetzen kann. Wie in den vergangenen Jahrtausenden, schreibt auch
heute noch die Menschheit ihre Geschichte mit ihren edelsten Säften, mit
ihrem Blut. Es wird eine Zeit kommen, da sie den entscheidenden Schritt
Hin und sich endgültig ans dem Tierreich lösen wird, wo aus den Nachfahren
des «Pitecanthropus» tatsächlich der «homo sapiens».
Dann erst wird die eigentliche Menschheitsgeschichte beginnen. Nicht mehr
Blut und Feindschaft werden die Kampfmittel sein, Vernunft und Verstand.
Viel spricht dafür, dass wir aus diesem Zustand in raschem Tempo nähern,
im Begriff stehen, jahrtausendelange Geschichte abzuschliessen und ein
neues Kapitel — das erste menschliche — zu beginnen.
Es ist ein schönes Gefühl, mein Mädchen, an dieser Entwicklung ein kleines
Teilchen beigetragen zu haben. Der Tod ist eine natürliche Erscheinung,
alle Kreatur muss sterben. Wer aber sein Leben hingibt für die Sache,
macht sein Sterben zu einer Tat!
Ein solches Sterben ist schön, bei aller Grausamkeit, weil es nicht
nutzlos ist. Liebes Evchen! Ich weiss, Dich trifft das schwerere Los. Und
wäre ich an Deiner Stelle, ich sähe den Dingen nicht so ruhig ins Auge,
wie ich es jetzt tue. Und doch muss ich aufrechterhalten, was ich
Dir schon einmal sagte: «Leiten ist ein Befehl, er tautet lebe! Du hast
noch Aufgaben in diesem Leben, denke immer daran!
Ich habe Dir bisher -verschwiegen, dass unser lieber Atti schon vor etwa
einem Monat zum Tode verurteilt wurde. Er lebt, während ich dies schreibe,
schon sicherlich nicht mehr.
Ich habe also keine Illusionen.
In etwa vier Wochen werde ich nicht mehr unter den Lebenden sein. Das neue
Jahr, das auf jeden Fall und unwiderruflich den Beginn der neuen n Zeit,
den Anfang eines neuen Abschnitts der Geschichte der Menschheit bringen
wird, werde Ich nicht mehr erleben. Ich sterbe am Ende der alten Zeit,
damit die anderen die neue beginnen können. Bin ich deshalb traurig? Nein!
Ich bin zufrieden, dass mir das Schicksal die Möglichkeit gab, bis dicht
an die Schwelle der Zeitenwende zu gelangen und mich kürz vor meinem Tode
einen Blick hinüber tun liess in die eben beginnende neue Zeit.
Es werden für die, die diesen Krieg überstehen noch lange Jahre voll
bitterer Mühen, Not und Sorgen kommen. Doch wird sich dies alles leichter
ertragen lassen, weil es im Dienste des Neuen, des Positiven geschieht,
weil es die Zukunft, das Glück der Menschheit verbürgt. Wie ich schon
sagte, mein Herz schlägt nicht schneller, wenn ich daran denke, dass ich
in wenigen Tagen sterben soll.
Doch ich will nicht verschweigen, unangenehm ist mir der Gedanke an die
Art, in der das vor sich gehen wird. Wenn ich zu wählen hätte, würde ich
Erhängen vorziehen. Ich weiss , dass man auf diese Weise sehr schnell und
schmerzlos stirbt, unbemerkt, so wie der Schlaf eintritt.
Der Schlaf, den die Alten den kleinen Bruder des Todes nannten.
Ich möchte immer weiter schreiben, ohne Unterlass meine Seele vor Dir
ausbreiten. Denn solange ich Dir schreibe, ist mir, als seiest Du bei mir
und schautest mich liebevoll an. Doch es drängt die Zeit. Und so will ich
zum Schluss Deine Worte benutzen: «Ueber Raum und Zeit» leb wohl, mein
Evchen!
Dein Hermann
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" Und die Flamme soll euch nicht versengen" / 1955
Steinberg Verlag Zürich 1955