BRIEFE BERÜHMTER MENSCHEN

 

 

Der letzte Brief

BRIEFE BERÜHMTER MENSCHEN

 

Der letzte Brief: der königliche aller Briefe.
 Sein Aroma ist köstlich. Was sonst in armseliger
 Verteilung aus Briefen blüht:
Genialität des  Denkens,
Glaubens Liebens
– im letzten Brief
wird er zu einer  Synthese.
Sein  Pathos ist unerhört  - aber sein Ethos
wächst darüber hinaus. Beide – Pathos und Ethos –
werden aufgenommen in die hohe Stimme
einer nie zu  entwirrenden Mystik.  Es ist das Schicksal
der letzten Takte der neunten Symphonie,
die eingehen in die Seligkeit eines metaphysischen Soprans. ....

 
Ilse  Linden
  Der letzte Brief Eine Sammlung letzter Briefe
Herausgegeben von Ilse Linden /Erschienen bei Oesterheld & Co Verlag
Berlin 1919
 
 

 



NIKOLAUS VON HALEM

1905 - 1944
 

 



Nikolaus von Halem, geboren am 15. März 1905 zu Schweiz an der Weichsel in Westpreußen, studierte die
Rechte und widmete sich danach kaufmännischen Aufgaben. Früh erkannte er in Hitler den »Postboten des Chaos« und nahm Verbindungen zu verschiedenen Widerstandskreisen in Deutschland und Österreich auf. Aber er war zugleich Mittelpunkt eines eigenen Kreises. Der Glanz und die Kraft seiner Persönlichkeit (man wußte nicht, ob er von Natur zum Staatsmann, zum Gelehrten oder zum Dichter bestimmt war) machten ihn zu einem der gefährlichsten Gegner des Regimes. Er wurde durch Verhaftung am 22. Februar 1942 unschädlich gemacht. Das Todesurteil folgte am 16. Juni 1944, am 9. Oktober 1944 die Hinrichtung in Brandenburg.

 



Brief an die Mutter
Zwei Tage vor der Hauptverhandlung geschrieben

Liebste, Arme, daß Du diesen Schmerz erleben mußt!
Jetzt kommt der Herbst, möge er Dir nicht das Herz brechen.
Ich schreibe dies zwei Tage vor der Verhandlung, auf alles gefaßt und in großer innerer Ruhe.
Wie tröstlich ist die Aussicht, daß meine Leiden bald zu Ende sein werden.
Nur daß die Euren dann erst wahrhaftig beginnen und fortdauern, bedrückt und quält mich.

Glaube mir, was die Frage des Todes angeht, bin ich im Besitz aller der Vorteile, die die Stoiker ihrer Lehre zuschreiben, wenn ich mich ihnen auch nur in der Form des Denkens nah, in seinem Inhalt dagegen weltenfern fühle.
Wir alle sind ja, ob wir es wissen oder nicht, von der geistigen Essenz zwanzig christlicher Jahrhunderte ganz durchtränkt. Eben jetzt scheint mir eine Periode zu beginnen, in der auch die scheinbar unchristlichen Gedanken der europäischen Denker, z. B. Kant, Schopenhauer, Nietzsche, diesen gemeinsamen Hintergrund sichtbar werden lassen.

Mit Recht fürchten wir alle - erspare mir hier die Antwort auf das Warum - den Tod, vor allem deshalb, weil er uns unverhofft zu überkommen pflegt.
Das Sterben eines Greises von achtzig Jahren ist nur deshalb von so milder Traurigkeit, weil der Zeitpunkt dem Weltenplan entspricht, also fest voraussehbar ist.
Mit Recht legt deshalb auch die katholische Kirche so großen Wert auf die Vorbereitung des Sterbenden, wobei die äußeren Vorgänge und Zeremonien nur eine Verlockung für den Geist darstellen, sich mit Ernst dem bevorstehenden Ende zuzuwenden und sich in dieser Stimmung zu versammeln.
Wer vorbereitet ist, braucht den Tod nicht zu fürchten.
Ich schäme mich fast, dabei an das Mysterium der Gnade zu rühren, in dem das hohe und heilige Mysterium des Todes gewissermaßen den Vorhof bildet.
Ein Schritt - und wir sind hindurch.

Ich weiß, daß die üblichen Tröstungen, insbesondere die der Kirche, nicht den Weg zu der Tiefe Deines Herzens finden, und ich müßte nicht Dein Sohn sein, wenn ich nicht auch andere, eigene Wege hätte gehen müssen. Aber da es Dir als Kulturwesen ja auch verschlossen ist, Dich durch Klagen, Schreie und Zerreißen Deiner Kleider von Deinem Schmerz zu befreien, versuche es nur wieder und wieder, Dich mit der ganzen Schärfe Deines Geistes in die Frage nach dem Sinn und Wesen des Lebens zu vertiefen. Kleopatra sagt zu Antonius:

O ungeheurer Mut! Kommst du so lächelnd und frei vom großen Stolz der Welt !
Nur einer Frau kann diese Freiheit als Frucht des Mutes erscheinen.
Aber Du kannst, was nur wenige Deines Geschlechtes können, die Festigkeit dieser inneren Freiheit von
der Welt und damit auch vom Tode Deines Sohnes erwerben, so daß auch Du so frei lächeln kannst,
wie ich es auf meinem letzten Wege tun werde. Lies - und denke dabei an mich - den zweiten Band der »Welt als Wille und Vorstellung«.
Den zweiten wohlgemerkt, wenigstens zuerst, ganz gegen Deine Gepflogenheiten. Lies darin herum
und laß Dich nicht davon einschüchtern, daß Schopenhauer immer wieder mit grimmiger Strenge fordert, man müsse alles, was er geschrieben hat, lesen.

Du wirst sehen, daß er Dich weiter führt, vielleicht zu der von Schopenhauer so verachteten, von
mir zärtlich geliebten Leibniz'schen Monadenlehre. Wenn ich es kann, werde ich Dir helfen. Wenn die Wogen sich einmal
wieder geglättet haben und Ihr für mich — vielleicht an Vaters Grab - ein Erinnerungszeichen anbringen laßt,
so fügt dazu den Spruch, der mich schon als Kind wie aus Weltentiefen angerührt hat:
»Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.
« Er steht im Jesaias, wo, weiß ich nicht aus dem Kopf.

Ich glaube, daß der Krieg zu Ende dieses oder zu Anfang des nächsten Jahres zu Ende gehen wird.
Ach, könnte ich doch, wie Moses auf das gelobte Land, noch auf eine helle Zukunft für Euch Alle, wenigstens aus der Ferne, blicken. Nun adieu, meine Liebste, von Herzen Liebe!
Nach soviel Worten scheint mir das Eigentliche noch immer ungesagt. Aber es ist eben unaussprechlich. Lassen wir es stumm in unseren Herzen, wo wir seiner gegenseitig unaussprechlich sicher sind. Nochmals adieu! Glaube nicht, daß
Du mich verlierst. Dank, tausendfachen Dank, innigste Liebe und Zärtlichkeit fasse ich zusammen in einen letzten Kuß.
Dein Sohn
Wenige Minuten vor der Hinrichtung mit gefesselten Händen geschrieben

Liebe Mutter!

Jetzt habe ich auch die letzte kleine Unruhe überwunden, die den Baumwipfel faßt, ehe er stürzt!
Und damit habe ich das Ziel der Menschheit erreicht.Denn wir können und sollen wissend dulden,
was der Pflanze unwissentlich widerfährt.
Adieu, ich werde geholt.

Tausend Küsse
Dein Sohn

An die Freundin Nänie

Auch das Schöne muß sterben! Das Menschen und Götter bezwinget,
Nicht die eherne Brust rührt es des stygischen Zeus.
Einmal nur erweichte die Liebe den Schattenbeherrscher,
Und an der Schwelle noch, streng, rief er zurück sein Geschenk.
Nicht stillt Aphrodite dem schönen Knaben die Wunde,
Die in den zierlichen Leib grausam der Eber geritzt.
Nicht errettet den göttlichen Held die unsterbliche Mutter,
Wann er, am skäischen Tor fallend, sein Schicksal erfüllt
Aber sie steigt aus dem Meer mit allen Töchtern des Nereus,
Und die Klage hebt an um den verherrlichten Sohn.
Siehe! Da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle,
daß das Schöne vergeht, daß das Vollkommene stirbt.
Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten, ist herrlich,
Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab.
Friedrich Schiller

Mein Liebstes, ich habe heute nacht von Dir geträumt, nicht zum ersten Mal, o nein, aber
doch besonders deutlich und eindringlich, weil ich schon wußte und mich den ganzen Abend darauf gefreut hatte, daß ich zu dieser grauen Stunde hier sitzen und an Dich schreiben würde. Zwar nur ein elendes Zettelchen -
auch Schreibpapier gibt es im Tartarus nicht -, aber da ist meine kleine Schrift ja einmal von Nutzen.

Ja, mein Liebstes, nun sieht es doch beinah so aus, als wolle es auf die »Nänie« hinauslaufen.
Es sind, wie ich jetzt so deutlich sehe, eben keineswegs die schöngewählten und graziös gestellten Worte, sondern die herrlichen Gedanken, die das Geheimnis des Gedichtes ausmachen. Es ist ein herrliches Bewußtsein,
wenigstens ein Klaglied im Mund der Geliebten zu bleiben.
Und es macht vieles leichter. Was hier über mich hereingebrochen ist, entbehrt aller Erhabenheit und Größe.
Es ist ein widerliches und - vielleicht — wahrscheinlich - wer weiß es? — irreparables Mißgeschick.

Die Beschuldigungen gegen mich sind erlogen und fließen aus sehr trüben Quellen.
Ehrgeiz, der sich ans falsche Objekt klammert, gekränktes Selbstgefühl, was weiß ich, ein ganzer Brei vergorener
Suppen brodelt in dieser Brühe. Nun, so etwas läßt sich bekanntlich am schwersten entkräften, zumal sich das Hauptargument schlecht anbringen läßt: nämlich, daß die ganze Konstruktion des Tatbestandes dem geistigen Niveau des Denunzianten, nicht aber dem meinen entspricht.

Ja nun! Ich täte wohl auch sehr unrecht, mich in Aufwallungen gegen diese Ungereimtheiten zu ermatten.
Wieder einmal hat eben, was mich seit langer Zeit auf dunklen Flügeln bald in großen, bald in kleinen Kreisen
umstrich und immer - (je zuweilen, würde Stifter sagen) als Schatten auf meinen Weg fiel,
mich ereilt und nistet nun, der Beute sicher, am Kopf meines Bettes.
Es ist nicht das erste Mal, daß ich einem Verhängnis gegenüberstehe, und die Frage nach dem Warum?
— von der anderen Frage nach der Schuld, nicht der kriminalistischen, sondern dem hier fixierten und
sichtbar werdenden Anteil an der ewigen Schuld ganz abgesehen, scheint mir weit weniger
dringend als die Bereitschaft, das Unvermeidliche ohne
Widerstreben zu tragen.
Das heißt natürlich nicht, daß ich hier, wie ein Russe mich im Irrgarten der Seele verlierend, das Leben, den Kampf und die Selbstbehauptung aufgebe und mich fallenlasse. Dieser Weg geht ja immer nach unten.
Aber die Selbstbehauptung nimmt ihren Sinn nicht mehr von der Aussicht, die ihr winkt. Ich bin also gerade nach dieser Überwindung einer gewiß nicht leichten und heiteren Strecke des inneren Weges freier, fester, klarer als je.
Und wenn ich Dir hier so einen kleinen Gruß verstohlen zuwinken kann, so glaube mir, es ist ein reizendes
und ungestörtes Glück darin, wie ich'» früher nicht bei vielen Dingen empfunden habe.

Ich lebe in einem Roman von Dickens, für das unreife Alter und Filmzwecke neu bearbeitet von Jack London und
Krasnow, vermutlich als eine der nicht unsympathischen Randfiguren, die geopfert werden müssen, damit das Zentrale an Lebensechtheit gewinnt. Aber was geht das alles noch mich an?
Du weißt, daß es von jeher mein Ziel war, die störenden kleinen Eingriffe, wie z. B. körperliche Schmerzen, in eine ihnen zukommende Souterrain-Waschküche zu manövrieren. Ich habe in dieser
Kunst seither vieles gelernt und bin mir auch für das, was noch kommen mag, meiner selbst einigermaßen sicher.
Alles um mich herum ist klein, nichtig, arm, häßlich in einem unglaublichen Sinne, ohne allen Adel, bisweilen schauerlich, immer aber ohne alle Realität. Was also kümmert's mich?

Ich habe auf Zeitungsrändern, kleinen Zetteln und schlimmen Fetzen ein halbes Dutzend Essays geschrieben,
in deren Gerippe noch eine Menge faktischer Substanz einzufüllen bleibt.
Die fehlt mir aber, da ich seit einem halben Jahr kein Buch mehr gesehen habe. Hier die Themen: Konrad I. und Heinrich I.
(das Problem der Opposition als Vorschule der Herrschaft), das Wormser Konkordat als europäischer Ordnungsversuch. Revolutionselemente in der Goldenen Bulle (das als Mittelpunkt der frühmittelalterlichen Sizinerrevolution);
Yorck und Preußen; Ludendorff, die Symbolgestalt des deutschen Schicksals, das heißt am Ende der bürgerlichen
Epoche; und schließlich, wenngleich in die Mitte gehörend, einen Aufsatz über Leibniz, der mich besonders beschäftigt.
Ach, die herrliche Monadenlehre, dieser klare, lebensvolle Bau der Welt!

Ich versenke mich mit wahrer Wonne gerade in diese Gedanken, von denen mein Kopf nur leider so vieles nicht enthält.
Wie lieb wäre es mir zu denken, daß Du eine kleine Leibniz-Bibliographie zusammenstelltest, mir ist die Literatur zu ihm gar nicht geläufig.
Besonders die erwähnten Skripten, selbst im Urtext und in kritischen Ausgaben.

Mein Liebstes, dies elende Zettelchen geht zu Ende und ich schwatze hier von Dingen, die doch nur Inventar meines düsteren Loses sind und da auch bleiben sollen wie Fledermäuse in der Dämmerung.
Aber Du glaubst gar nicht, was für ein Genuß es ist, einmal etwas anderes ins Auge zu fassen, als die kleinen Dinge des Kommenden. Leb wohl, meine Schöne, Reizende, Geliebte!
Verschenke Dich, aber verschleudere Dich nicht!
Ja, ja, mein Herz, wenn man wirklich allein wäre, so bedeutete dies alles nichts, der Schmerz und die Unruhe fangen erst bei den anderen Menschen an. Meine Söhne!
Mein Fritzcher, von dem ich nicht einmal ein Bild haben darf! Da kann das Bewußtsein der Situation, wenn es wieder einmal recht deutlich aufsteigt, fast zu einer körperlichen Qual werden.

Indessen -! Bleibt, was ich vielleicht zu diesem oder jenem Punkte des Lebens und der deutschen und europäischen
Situation zu sagen haben würde - und ich hätte schon etwas zu sagen. Jedoch es sind Gedanken, die die Wirklichkeit schaffen, nicht Worte, und denken kann ich hier wie in der Freiheit.
Du siehst, mein Herz, wie kurz die Kette ist, an der ich liege.
Schon wieder bin ich bei mir und meiner Situation. Und ich versichere Dich, daß diese eigentümliche Lage, die heute 164 Tage währt, ein sehr merkwürdiges Erlebnis ist.

In all der abscheulichen, stumpfen Häßlichkeit, die mich hier umgibt, laß ich meine Augen zuweilen auf Deinem
Nädelchen und dem Dunhill ausruhen. Es ist mir immer gelungen, sie bei mir zu behalten, und sie sind ein reizender Trost.
Deine Lederweste trag ich tagaus, tagein, die ganze Zeit. Sie ist nicht sauberer geworden, aber Wärmen ist ja ihr Lebenszweck und den kann sie hier erfüllen.

Ach, mein Herz, mein Herz, nun heißt es endgültig Abschied nehmen. Indem ich Dir schrieb, umfloß mich noch
Deine Atmosphäre, Dein Zauber und Glanz wieder. Ich schreibe Dir auch ein paar Verse hin, mögen sie gut oder schlecht sein, das kann ich hier am wenigsten sehen. Gib ihnen »träumend ein halb Gehör«.
Weißt Du noch, »nicht lange dürstest Du mehr, verbranntes Herz«, - die »Nänie« und die »Gruppe aus dem Tartarus« — »wir aber inmitten treiben dahin auf düsterem Schiffe«.

Jetzt aber, »jetzt kommt der Herbst«.
Wie es mich wurmt, daß ich dies nicht kann. Alles andere habe ich mir wohl tausend Mal zugesprochen und in der Zelle,
in der ich früher saß, steht alles in die Wände geritzt und noch vieles dazu, was mir einfiel.
Ach ja, es war vieles sehr schön, aber ich habe es wohl nicht mehr mit der nötigen Sanftmut genossen.
Das ist, glaube mir, was uns fehlt, und stehet nicht geschrieben: selig sind die Sanftmütigen,
denn sie sollen das Erdreich besitzen! Hier ist es mir klar geworden, wie wahr das ist,
mag auch jetzt eben aller Anschein dagegen sprechen.

Geduld und Sanftmut, eisenharter Zaum
und scharfer Schnitt an jeder zarten Ranke
- noch steht als stolzer Wächter der Gedanke
in meiner letzten Tage Schattenraum.

Doch kommt die Nacht, so breitest Du den Saum
des goldenen Mantels über jede Schranke,
Du weißt es nur zu gut, woran ich kranke,
fuhrst mich hinweg zu Tränen, Lied und Traum,

zu dunkler Blumen Duft, zu Lust und Schmerz,
dann hebt die Sehnsucht ihr von Gram beschwertes,
zu leichtem Schlummer nie gesenktes Lid.

In ihrem Blick sich spiegelnd schweigt das Herz
und nur des Fabeltieres Los begehrt es
das sterben muss, wenn es sich selber sieht

Abschiedsbrief an den Freund Karl Ludwig Freiherrn von Guttenberg

16. Juni 1943

Mein Lieber!

Ich fürchte, daß ich die Gelegenheit eines solchen Briefes auffassen muß, als wäre sie die letzte
Mir geschieht, wenn ich in dieser Sache untergehen sollte, ein himmelschreiendes Unrecht.
Die gegen mich erhobenen Beschuldigungen sind außerordentlich schwer, aber auf die phantastischste
Weise lügenhaft und - wie mir scheinen will - im Grunde wenig überzeugend.
Sie sind jedenfalls aus sehr niedrigen und verächtlichen Motiven erwachsen und werden geradezu mit einer
entwaffnenden Stirn vorgebracht. Was mit mir geschehen wird, ist mir gänzlich ungewiß.

Das Schlimmste ist so wahrscheinlich wie ein guter Ausgang. Also gilt es wohl dafür bereit zu sein, daß nun
bald geschieden werden muß und ich nun auch zu den Menschen gehören soll, die von Dir,
mein Lieber, weggehen, wie Du sagst. Denn ich habe mich Dir immer sehr nahe gefühlt und glaube schon, daß
uns mehr verbindet, als wir uns so in der Gelassenheit des Alltags eingestanden.

Und gerade jetzt, wo vielleicht die Reihe an mich kommt, kann ich Dir die in Deinen Worten so einfach
ausgedrückte, aber durchaus zwiespältige Bitternis des Zurückbleibenden deutlich nachfühlen.
Aber glaube mir, auch für den anderen sieht es sehr ähnlich aus.
Das Weggehen scheint mir nicht schwer zu sein, aber das Zurücklassen ist furchtbar bitter. So bin ich auch im
Hinblick auf mich selbst ganz getrost und unerschüttert, wenn auch auf das Äußerste vorbereitet. Muß ich sterben oder ohne
Aussicht auf Rettung in einer Vorform der Unterwelt versinken, so verliere ich nicht mich, wohl aber Euch alle,
an denen mein Herz hängt. Ich kann nicht davon sprechen, mit welcher schmerzlichen Innigkeit ich an Viktoria
und die Kinder denke, und wie mich die Sorge um ihre Zukunft peinigt.

Mir bleibt nichts als das Vertrauen auf den ritterlichen Kreis der Freunde , der sich um die Verlassene stelle
und ihnen in ihrer Bedrängnis Schutz biete. Lass Viktoria und ihre Kinder nicht im Stich, Du und die andere Freunde.
Denke daran, wieviel schwerer V. s.
Schicksal in einem solchen Falle ist als das einer Kriegswitwe.

Half V. mein Andenken zu bewahren und bestätig durch Eure Freundschaft auch für meine Söhne,
dass mein Ende traurig und ohne Glanz, aber auch ohne Schuld und nicht schmählich war.
Sorg dafür, dass der Vater nicht im Leben und im Denken meiner Söhne ein dunkle Punkt und eine Wunde
bleibe, von der je weniger desto besser gesprochen wird.
Erspart ihnen wenigstens diese fortwuchernde Folge meines Unglücks, an dessen Entstehung sie in keiner
Weise teilhaben.
Sorgt auch dafür, daß Viktoria in der »Welt« bleibe, von der sie selbst zwar auf eine wunderbare
Weise frei und unabhängig ist, die sie aber ohne mich um der Kinder willen braucht.
Alles dies kann die Familie allein nicht bewirken, zumal sie fast nur aus Frauen besteht.
Eure Freundlichkeit allein kann V. und die Kinder vor dem grauen Mittelmaß bewahren, das Witwen und
Waisen so oft verschlingt.
Wie froh würde mich deshalb auch der Gedanke machen, daß Du und die anderen Verbindung mit meiner
Mutter aufnehmen. Auch deshalb stehe ich hier und muß große Leiden erdulden, weil ich einer von Euch
bin und weil die heimtückische Niedertracht nicht nur die Person, sondern die Art haßt.
Tretet für diese Art ein, die Ihr ja selbst seid, auch wenn sie in meinen kleinen Söhnen bedroht wird, und
gebt ihnen Rat, Hilfe, Förderung und Verteidigung. Lehrt sie, was auch die beste Mutter nicht kann,
»Speere werfen und die Götter ehren«, und duldet nicht nur, sondern sorgt auch dafür, daß sie meinen Platz in Eurer Mitte einnehmen...

Von diesem Ort aus erscheint mir mein Leben als ein wunderlich verschlungener Pfad, der sich aber
jetzt ganz ins Ungewisse, Verworrene zu wenden scheint. Aber ich sehe die nächste Biegung mit Ruhe nahen,
was sich dahinter auch verbergen mag. Ich glaube, bei Jesajas steht: »Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst!
Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein!« Aber es ist eine in alle Tiefen dringende Erfahrung,
wenn dieser Vordergrund, das Ich so schattenhaft zu werden beginnt.
Wie verändert es den Rückblick, wenn plötzlich geraten erscheint, in ihm den einzigen Aspekt zu suchen !
Über wie vieles kann man nicht mit einemmal ganz fröhlich und sanftmütig lachen, denn ich habe
- Gott sei Dank - das Lachen noch nicht verlernt, sondern höchstens in mehreren
Lebenslagen die Kraft und Lust dazu neu gewonnen.

Dennoch zeigt mir der Rückblick mehr Schalten als Licht. Ich sehe jetzt erst, wie sehr ich mein Leben nur als
Reaktion auf Triebe, Nöte und Anwandlungen gelebt habe, und wie wenig ich dabei von der Stelle gekommen,
im Sinne höherer Wirklichkeit in Bewegung geraten bin. So geht das düstere immer wieder von mir selbst,
das Helle von anderen Menschen aus.

Auch von Dir! Und wenn ich bei aller Skepsis gegenüber meiner Macht, das Unheil zu wenden, doch keineswegs
gesonnen bin, mich wehrlos fallen zu lassen, wenn ich im Bewußtsein des mir angetanen, schmähligen Unrechts und
des eigenen Rechts mit gespannter Aufmerksamkeit und ungeminderten Kraft auf jede Gelegenheit
spähe, um diese widerliche, würgende Schlinge von meinem Halse abzustreifen, so vor allem aus dem
brennenden Wunsch, ungetanes zu tun.

Unfülltes zu vollenden, auszusprechen, was mir zu diesem Zweck als Gedanke gegeben wurde, und in eine
höhere Schicht des Lebens zu wachsen.
Denn es ist hart, auf eine so sinnlose Weise unterzugehen, und jeder Anstrengung würdig, nach einem
besseren Los zu streben.
Ich weiß sehr wohl, daß andere einstweilen so gut wie nichts, ich selbst aber auch nicht viel mehr dafür tun kann.
Um so mehr suche ich meine Kraft zu sammeln und für eine Stunde bereitzuhalten, in der es auf mehr ankommt als dulden, aushallen,
widerstehen.
Aber es würde mich nur schwächen, wenn ich mich inzwischen in Hoffnungen und Aussichten wiegen würde,
die auf Hilfe von außen, auf unvorhergesehene Wendungen oder ähnliche Traumgebilde gegründet sind. Schon viele Menschen sind unschuldig umgebracht worden, und diese Zeit macht ja die Beiläufigkeit eines einzelnen Schicksals besonders deutlich...

Grüße mir alle Freunde und gib meine Bitte weiter an sie. Übernimm Du es, sie ein wenig dazu anzuhalten.
Ich denke an Euch alle mit der größten Herzlichkeit.
Jedes fröhliche Lachen klingt mir noch im Ohr, jedes ernste Wort geht mir durch den Kopf, jeder gute Rat, jeder Blick, alle Freundlichkeit sind mir gegenwärtig und deutlich, sie umgeben mich wie ein Panzer gegen tausend kleine
Widrigkeiten.
Wer weiß, mein Lieber, vielleicht sitzen wir eines Tages wieder bei einem guten Glase beisammen und denken mit Lachen und Wehmut der alten Zeiten. Wenn aber nicht, so will ich Dir heute für das Geschenk Deiner
Freundschaft und die vielen Stunden danken, die wir in ihr miteinander verlebt haben. Aus ihnen erwuchs, wie nicht aus vielen anderen Dingen, zu ihrem Teil der Reichtum meines Lebens.
Lebe wohl, mein Lieber

Dein Treuer



Literatur: Du hast mich heimgesucht bei Nacht
Abschiedsbriefe und Aufzeichnungen des Widerstandes 1933 -1945
Herausgegeben von Helmut Golwitzer, Käthe Kuhn, Reinhold Schneider

 

 

 


 

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