„Ein
System ohne Demut und Güte ist zum Scheitern verurteilt."
HARNACK ERNST VON
1888 - 1945
Regierungspräsident
Geboren am 15. Juli 1888 in Marburg; hingerichtet am 5. März 1945 in
Berlin. Den Sohn des großen Theologen Adolf von Harnack und Urenkel Justus
Liebigs führte ein tiefes und verantwortungsbewußtes Mitfühlen mit den
Armen und Enterbten in das Lager der Sozialisten. Im Dritten Reich half er
die Verbindung zwischen den sozialdemokratischen Führern und dem
militärischen Widerstand herstellen und bezahlte dafür mit seinem Leben.
Er starb als Sieger, nicht als Besiegter. Er wollte — so lautete seine
Bitte an den Zellennachbarn, der eine Geige besaß — mit einem christlichen
Triumphlied im Ohr scheiden: vexilla regis prodeunt. ..
Aus einem Brief an seine Schwester Anna Frucht von Harnack, die vor einer
Katechetenprüfung stand
Berlin-Moabit, den 7. Dezember 1944
... Bei Deiner Prüfung legst Du gewiß Ehre ein — geprüft wird unsere
Generation schon recht lange, und härter, als wir es uns träumen ließen
„als die Tage heiter glänzten".
Meine Prüfung meistere ich, indem ich den — nicht geringen — Spielraum,
der dem Untersuchungsgefangenen überlassen ist, bis zum Rande ausfülle mit
Film-Gestaltung, Bastelarbeiten zu Weihnachten für hiesige praktische
Zwecke, Schreiben und Lesen, ja, Studieren. Aber alles ohne Krampf, so daß
ich doch immer einmal ruhig die Augen erheben und ohne Grauen der Zukunft
entgegenblicken kann.
Zwischen dem Leben draußen und mir liegt infolge der Langsamkeit der
Verbindungen eine Art von Isolierschicht, mit der ich mich aber abgefunden
habe. .
An seine Frau
28. Oktober 1944
Ich möchte diesen Brief mit der beruhigenden Erklärung beginnen, daß Dir,
den Kindern oder sonstigen Angehörigen durch meine Inhaftierung keinerlei
Gefahren drohen ...
Es steht ernst um mich, aber es ging um Großes, und ich bin nicht aus
Leichtsinn in meine jetzige Lage geraten. Die äußeren Umstände meines
Lebens sind tragbar — einschließlich der Alarme in der verschlossenen
Zelle.
Sie sind ein Nichts im Vergleich zu den seelischen Belastungen und
Anfechtungen. Sie zu tragen und zu überwinden ist ein schweres, schweres
Werk, dessen Leistung alle Kräfte der Seele, des Charakters und des
Geistes erfordert.
Gott hat mir bisher diese Kräfte geschenkt, und Ihr, meine Lieben, habt
sie mir durch Eure Wünsche und Fürbitten, Euere Gänge und Gaben gestärkt.
Nun nehmt mir noch eine große Last vom Herzen, indem Ihr mir versichert,
daß Ihr Euch nicht um mich sorgt mit jener zermürbenden Sorge, die Jesus
Christus uns für immer hat nehmen wollen...
Ihr habt alle schwer zu tragen, und die kommenden Zeiten werden neue
Prüfungen bringen. Da wäre es mein Herzenswunsch, daß der Gedanke an mich
nicht zur Verdunklung Eures Lebens beiträgt, sondern daß von meiner
stillen Zelle ein Strom der Beruhigung und der Kraft ausgeht, auf Euch und
alle, die mir nahestehen.
Nicht, daß ich die Welt schon überwunden hätte. Dieser große Abschluß wird
noch manch bittere Arbeit und manche Geduld kosten.
Auch mag es wohl sein, daß mir der Todesengel, der mich schon oft
streifte, auch diesmal noch Zeit gibt. Aber es wäre töricht und
unmännlich, alle Hoffnungen auf den Eintritt irdischer Wunder zu setzen.
Das Wunder der Gnade ist es, dem ich zustrebe. Ich habe schon einen Strahl
von ihm verspürt — sonst könnte ich diesen Brief nicht schreiben — und
hoffe zu Gott, daß mich Seine Gnade über alles Bangen über mein äußeres
Schicksal hinwegtragen wird.
Apokalyptische Zeiten wie diese mit ihren ständigen Gefährdungen und
Verlusten lassen den Wert des Lebens gering erscheinen, den der Seele aber
hell aufleuchten. Wir wollen uns seelisch in einer Sphäre vereinen, in der
es keine eisernen Gitter und Tore gibt...
Berlin-Moabit, den 25. Dezember 1944 1. Weihnachtsfeiertag
Aus vollem Herzen danke ich Dir und den Töchtern für die schönen
Weihnachtsfeiertage, die Ihr mir bereitet habt und noch bereitet.
Eure Sendungen haben dazu beigetragen, daß ich wie mit Adlersflügeln über
die seelischen Klippen dieser erinnerungsreichen Zeit hinweggetragen
wurde.
Nicht zuletzt, weil ich meinen Mithäftlingen mit den 23 Gewinnen aus 23
Losen meiner „Moabiter Weihnachtslotterie" eine wirkliche Freude bereiten
konnte. Eure Brieflein, Briefpapier, die schön gemalten Karten der Töchter
und einiges, was ich aufgespart hatte, lag säuberlich verpackt und mit
getuschten Nummern versehen auf meinem Tablett (hergestellt aus
Aktendeckel, Pappe und Goldpapier), bedeckt mit der weißen Spitzendecke
und einem „Ziehungsplan", der den durch ein Zellenfenster scheinenden
Weihnachtsstern als Emblem trug.
Nachmittags putzte ich mein Edeltännchen, für dessen Erstehung ich R.
nicht genug danken kann, verfertigte ihm noch einen guten Spitzenstern und
befestigte Eueren Adventsengel daran.
Der kleine Arbeitstisch daneben, dessen ich mich seit einiger Zeit
erfreue, wurde mit der blütenweißen Papierdecke zum Gabentisch.
Kuchenschachteln und Stollen gruppierten sich um die vertraute
Schnitzkrippe.
Und Bücher! . . . die immer herzerfreuenden Mozartbriefe, den betulichen,
gemütvollen Timmermanns und die Gedanken zur Kunst von Carus, dem
hochbedeutenden Arzt, Maler und Schriftsteller der Romantik, von dem ich
schon immer etwas lesen wollte. Abends hatte ich die Kerzen entzündet und
nur die Wandlampe hinter R's vollendeter Transparent-Krippe brennen
lassen.
Es war schön, vielleicht zu schön, denn als ich die Familienbilder
betrachten wollte, kam mir immer etwas in die Augen, was sie trübte . . .
Da krachte die Zellentür, und es erschien der Kommandant des Gefängnisses,
ein ritterlicher Mann, schüttelte mir die Hand und sagte, er habe sich
über meine Betreuungsarbeit gefreut und wollte mich mal kennenlernen.
„Theo", den wackersten der Kalfaktoren, hatte er mit meinem
Lotterie-Tablett gleich mitgebracht, und nun erhielt ich die Erlaubnis,
die Verlosung in einer Zelle des Souterrains, wo fünf Kalfaktoren liegen,
selbst vorzunehmen.
Da blieb ich nun ausgiebig und werde diesen Abend ebensowenig vergessen
wie den Weihnachtsabend vor einem Menschenalter, im dunklen Zuge von der
Westfront nach Luxemburg, und den vor einem Jahr auf der Orgelempore der
Fieberbrunner Kirche.
„Schicksale gebündelt" taten sich da auf, und ich mußte an Papas derbes,
aber wahres Wort denken: „Der Mensch ist ein zähes Luder!" Und wieviel
anständige Gesinnung, wieviel Herzenskultur hatte all' diese Schicksale
überdauert!
So wurde ich über meine eigenen Sorgen und Nöte hinweggetragen, und als
ich wieder in der Zelle war, da konnte ich jene Bilder mit ungetrübten
Augen vor mir ausbreiten und die Zeiten wieder erwecken, in denen sie
entstanden waren.
Dank stieg in mir auf und überstrahlte jede Anwandlung der Wehmut....
In herzlicher Verbundenheit
Dein Ernst
Frau von Harnack an Frau v. S.
Zehlendorf, den 10. März 1945
Meine liebe A.!
Nun ist das Furchtbare doch geschehen, vor dem wir so große Angst hatten,
das wir aber doch nie wirklich glauben konnten. Mutig und aufrecht ging er
seinen Weg bis zum Ende und blieb seiner Überzeugung treu.
Er ist für seinen Glauben gestorben. Er sagte: „Es ist nicht entscheidend,
daß man das Ziel erreicht, sondern daß man den richtigen Weg geht."
Für uns Zurückbleibende ist es nun traurig und leer . . . Nun müssen wir
unsere Herzen fest machen, das Schwere zu tragen .....
Literatur: Du hast
mich heimgesucht bei Nacht
Abschiedsbriefe und Aufzeichnungen des Widerstandes 1933 -1945
Herausgegeben von Helmut Golwitzer, Käthe Kuhn, Reinhold Schneider