KLEIST - SCHMENZIN
EWALD VON
1889 - 1945
Gutsherr
„Das Ende einer nationalsozialistischen Regierung wird auf jeden Fall das
Chaos sein." Dieser Satz findet sich in einem 1932 unter dem Titel „Der
Nationalsozialismus eine Gefahr" veröffentlichten Flugblatt. Der
Verfasser, Ewald von Kleist, geboren am 22. März 1889 in Groß - Dubberow
/Pommern, gehörte damals zu den maßgebenden Persönlichkeiten des
konservativen Deutschland. Sein Christentum und seine staatsmännische
Einsicht verboten es ihm, das Zweckbündnis seiner Standes und
Parteigenossen mit der nationalsozialistischen Bewegung gutzuheißen. Er
kannte und durchschaute Hitler; gelegentlich einer Audienz bei Hindenburg
warnte er den greisen Reichspräsidenten mit schonungslosen Worten.
Hindenburg gab ihm recht, aber sechs Wochen später stimmte er der
Ernennung Hitlers zum Reichskanzler zu. Von diesem Augenblick an zog sich
Kleist von der großen Politik zurück, und seine Freunde hörten ihn
wiederholt sagen, es gäbe keine Hoffnung mehr auf Abwendung der
Katastrophe. Wo Hilfe am meisten nottat, griff er helfend ein. So
beschaffte er in seinem Landkreis Zufluchtsstätten für die Verfemten des
Regimes. Indessen verfolgten ihn die Machthaber mit wohlbegründetem Haß.
Am 1. Mai 1933 wurde er verhaftet, nach einigen Tagen entlassen und am 21.
Juni 1933 wiederum verhaftet und wochenlang festgehalten. Der blutigen
Abrechnung der Partei mit ihren Feinden am 30. Juni 1934 entging er durch
Flucht aus Pommern. Am Tage nach dem mißlungenen Attentat gegen Hitler, am
21. Juli 1944, wurde das Herrenhaus Schmenzin umstellt, Kleist in
Gestapohaft erst nach Stettin und später nach Berlin gebracht. Dort faßte
er seine Gedanken über das Leben und seine christlichen
Glaubensüberzeugungen zu einem Vermächtnis zusammen, das hier mit geringen
Auslassungen vorgelegt wird. In dieser Zeit, in der Kerkerhaft und
angesichts des Todes wurde ihm, wie einst Boethius, die gnadenhafte
Gewißheit der Ewigkeit. Am 15. April 1945 starb er in Plötzensee durch
Henkershand.
Letzte Aufzeichnungen
Begonnen am 6. Oktober 1944
Heute, wo die 12. Woche meiner Haft beginnt, will ich beginnen, einiges,
was mich im Gefängnis bewegt hat, niederzuschreiben, um mir die lange Zeit
zu vertreiben, um es mir vom Herzen zu schreiben aber auch, weil Dir,
liebe Alice, diese Zeilen doch einmal vielleicht zu Gesicht kommen werden,
Dir, der sie in erster Linie gewidmet sind.
Aus naheliegenden Gründen kann ich nur Einiges zu Papier bringen, ich
hoffe aber, das wird ungeschminkt sein. Ich schreibe hin, was mir gerade
in den Sinn kommt.
Die Stimmung hat oft geschwankt zwischen Hoffnung und trübsten
Erwartungen, meistens nicht bestimmt durch verstandesmäßige Überlegungen ,
oft durch ziemlich unbedeutende Dinge. In Stettin hofften wir
Leidensgenossen auf unsere baldige Entlassung; diese Stimmung war stark
genährt durch die Äußerungen der dortigen Gestapo. In einem Punkt ist aber
meine Stimmung bis heute ganz gleichmäßig, ruhig und fest geblieben: ich
habe midi bedingungslos in Gottes Willen ergeben, nicht ein einziges Mal
ist mir eine Zweifelsanfechtung gekommen, daß Gottes Wille auch in diesem
Fall gerecht und gut ist, nicht einen Augenblick habe ich mit IHM
gehadert.
Darum ist mir auch trotz sehr trüber Stunden die Verzweiflung fern
geblieben. Geholfen hat mir auch, daß ich nicht der Versuchung nachgegeben
habe, mir selber leid zu tun. Ich habe auch die wehmütigen und sehr
sehnsüchtigen Gedanken an meine Lieben und an Schmenzin kurz gehalten. Nur
manchmal habe ich es mir erlaubt, mir auszumalen, was Ihr tätet, und dann
im Geist das Singen bei der Abendandacht gehört, die Stimmen der beiden
Kleinen vorm Haus spielend, Vati um „Zückis" bittend oder im Hemdchen
„Nacht" sagend.
Am schwersten war es mir, Dich, Alice, vorzustellen, wie Du Dich in Kummer
und sorgender Liebe verzehrtest. Schwer war es auch, in die schönen
Herbsttage zu sehen — ich hatte von meiner ersten Zelle hier einen freien,
weiten Blick auf Bäume — und an die Brunst zu denken. Ich hatte so
gewünscht, noch einmal mit Dir auf der Kanzel zu sein, die Hirsche zu
beobachten und sie im schönen herbstlichen Wald schreien zu hören, den
ganzen Zauber noch einmal mit Dir zu erleben, vielleicht zum letzten Mal.
Aber sich zu tief in diese lockenden, schmerzlich-süßen Vorstellungen zu
verlieren, wäre nicht richtig gewesen. Vielleicht am stärksten war der
Wunsch, beim Adventskranz und in der Weihnachtszeit die alten, lieben
Lieder zu hören. Aber so merkwürdig es klingt, eins habe ich im Gefängnis
gelernt: mich zu freuen.
7. Oktober 1944
Früher war ich auf das Überindividuelle, Allgemeine eingestellt, ich
möchte fast sagen, ich selber wurde meinem eigenen Bewußtsein etwas
entrückt. Und so habe ich die kleineren und größeren menschlichen Freuden
meistens nicht so nachhaltig empfunden, wie es hätte sein können und
müssen. Dieser Bezirk war eben überschattet. Es war eine zwar ideale und —
ich hoffe es wenigstens — selbstlose Einstellung, aber mit der typisch
männlichen Einseitigkeit des etwas Unpersönlichen. Wie arm wäre doch das
Leben, wenn es keine Ergänzung gäbe, wie ohne Wärme, Liebe, Zartheit und
Traurigkeit. In den letzten Jahren, von allem öffentlichen Leben
abgekehrt, hat sich wohl eine Wandlung schon angebahnt.
Hier in der Trostlosigkeit einer elfwöchigen Einzelhaft hat das rein
Menschliche und das Kleine eine ganz andere Bedeutung für mich gewonnen.
Ich kann mich über scheinbar Geringfügiges so tief und nachhaltig freuen,
wie ich es früher nie gekannt hätte.
8. Oktober 1944
Ich war gestern bei dem Sichfreuen stehen geblieben.
Die erste große Freude war Dein erster Brief und Dein Bild mit den beiden
Kleinen. Jeden Tag habe ich es mehrmals in der Hand gehabt, wie oft ist es
mir ein Trost gewesen. Dann die Nachricht, daß wir uns am 17. August
sprechen könnten.
Acht Tage habe ich die Tage und die Stunden gezählt. Als in der Nacht zum
17. der schwere Luftangriff auf Stettin kam, war mein erster Gedanke, nun
werden die Bahnverbindungen gestört sein, und Du wirst nicht kommen
können. So ist es ja auch gekommen, und wir haben uns nicht gesehen. — Die
ersten Wochen hier in Berlin waren nicht schön — von jeder, aber auch
jeder Verbindung mit der Außenwelt abgeschnitten. Kein Lebenszeichen von
Dir, ich nahm an, daß Hermann gefallen sei, mich quälte der Gedanke an
Ewald-Heinrich, von dem ich wußte, daß er auch er mich im Gefängnis saß,
da wir beide zufällig im selben Augenblick eingeliefert wurden und uns
dabei gesehen haben.
Ich habe immer wieder gebeten, mir eine Nachricht über Dich und Hermann
zukommen zu lassen, ob Ihr noch lebtet. Alles vergeblich, nicht einmal
eine Ablehnung meiner Gesuche erfolgte — nichts. Es war, als ob ich lebend
im Sarge läge.Diese Tage waren schwer, aber jetzt, wo sie hinter mir
liegen, möchte ich sie nicht missen, auch in ihnen war die gnädige Führung
Gottes.
Ich bin in ihnen meines Glaubens völlig gewiß geworden, er hat allen
Belastungen unerschüttert standgehalten. Es hat nicht einen Augenblick des
Schwankens oder der Verzweiflung gegeben. Ich habe auch in den Tagen Gott
danken können.
Es war mir manchmal, als ob ich beinahe körperlich die führende und zu
sich ziehende Hand Gottes spürte. Und das war durchaus frei von Exaltation
und Schwärmerei. Die Sicherheit, daß dieses Leben nur eine sehr kurze
Prüfung ist und der Tod uns einst als Freund und Erlöser aus allem Leid in
das Glück führen wird, näher zu Gott, hat über alles sicher
hinweggeholfen. Und dann kam ganz unerwartet der Tag, wo sich die
Zellentür auftat und mir der von Dir geschriebene Gruß und die
Lebensmittel gebracht wurden. Ich glaube, Du kannst es Dir kaum
vorstellen, wie ich mich gefreut habe.
Und dann täglich die Sendung. Der ganze Tag vorher und nachher erhielt von
daher einen Schimmer. . . Das Köstlichste an den Sachen war Deine Liebe,
die aus allem durchleuchtete, nicht zum wenigsten, daß Du Dich so lange
von den Kindern trenntest. Am 19. September schicktest Du mir die ersten
Rosen. Ein Blättchen von diesen Rosen bewahre ich jetzt noch auf.
10. November 1944
Lange Schreibpause. — Eins habe ich noch gelernt, dankbar sein den
Menschen auch für unscheinbare Freundlichkeiten, vor allem aber Gott.
Trotz allem Schweren hat Er mir doch soviel Gutes gegeben, darunter mit
das Beste, was der Mensch haben kann: vom ersten Lebenstage bis heute hat
mich treue, selbstlose Liebe in ungewöhnlichem Maß begleitet. Ich habe
auch immer einige treue Freunde gehabt. Und das ist wohl mehr als die
Erfüllung mancher ins Weite greifender Wünsche und Pläne. Ich sehe es
immer klarer, wir Menschen — gerade wir Weißen, wir Europäer — werten
alles falsch, weil wir uns von Gott entfernt haben, die heutige Zeit hat
keinen richtigen Maßstab mehr. Die Menschen jagen vergänglichen Zielen
nach und wissen nicht mehr was und wo Glück ist; sie wissen wirklich nicht
mehr, wofür sie dankbar sein sollen. Das Köstlichste aber ist die Liebe
und Gnade Gottes, der Jeden, der da glaubt, erlösen wird aus aller Not,
jedem Schmerz, und ihm schon auf Erden hilft durch seinen Geist.
Gott hat uns alles offenbart, was wir zum Leben und Sterben gebrauchen.
Ich habe es wirklich erfahren: Dennoch bleibe ich stets an Dir, denn Du
hältst mich an meiner rechten Hand; Du leitest mich nach Deinem Rat und
nimmst mich endlich mit Ehren an. Wenn ich Dich nur habe ..... Ich habe es
erfahren mit unbeschreiblich beseligender Gewißheit. Ich habe es gelernt,
Gott zu danken, und was es heißen soll: „Du sollst Gott lieben über
Alles." Er hat mich nicht fallen lassen, Er hat mich immer wieder zu sich
gezogen, aus lauter Güte. -
Auch meine Einstellung zum Gebet hat sich gewandelt. Ich hatte mich dem
Standpunkt genähert, daß eigentlich nur für innere Gaben ein inständiges
Gebet gesprochen werden sollte, weil Gott in seiner Weisheit,
unbeeinflußbar durch ein Gebet, gäbe oder verweigere. Als junger Mensch
habe ich über meine Großmutter manchmal etwas gelächelt - in diesem
Lächeln war aber immer noch Ehrerbietung, damals war man nicht so
ehrfurchtslos wie heute -, wenn sie um die geringfügigsten Dinge in
kindlicher Gläubigkeit betete und dafür dankte.
Ich denke jetzt ganz anders darüber. Ich weiß es nicht und soll es wohl
auch nicht wissen, wie weit Gott Gebete erhört. Die Erhörung aber einfach
bestreiten kann nur der dumme Verstand. " Und was kein Verstand der
Verständigen sieht, das übt die Einfalt ein kindlich Gemüt." Sicher aber
hat ein Gebet mit dem innerem Zusatz " aber Dein Wille geschehe" Segen in
sich und gibt Trost und Kraft.
Ich glaube auch, daß ein ernstliches Gebet erhört werden kann, wenn die
arme Vernunft es sich auch nicht vorstellen kann. Ich bete wieder ständig
für vieles, namentlich für meine Lieben. Der Mensch soll sich mit allen
Sorgen und Freuden zu Gott wenden, sonst verliert er die lebendige
Verbindung mit Ihm. Man soll es tun in gesammelter, ernster Versenkung, es
soll ein Sich Gott öffnen sein. In der Bitte soll man hören und hören
wollen und Gott bleibt nicht stumm.
Ich weiß es. Es ist von größter Wichtigkeit, daß Kinder viele
Kirchenlieder und gute Bibelsprüche lernen und zwar so, daß sie sie für
das ganze Leben sicher behalten. Das ist wichtiger als die
Katechismuserklärungen. Auch Erwachsene sollen sich keine Mühe verdrießen
lassen, Lieder und Sprüche nachzulernen. Sie helfen wirklich. Ich habe
früher immer Glauben, Gehorsam und Vertrauen betont, aber wohl doch zu
wenig die Liebe zu Gott und den Nächsten.
Freilich meine ich nicht die weichmütige Liebe, die sogenannte
Wohltätigkeit und „soziale Gesinnung", die nur diesseitige, materielle
Dinge im Auge hat, also Gott gerade entgegenhandelt, indem sie Gedanken,
Wünsche und Bestrebungen der Menschen von Gott und den ewigen Dingen
weglenkt und die Menschen geradezu lehrt, sich gegen das Gebot „Du sollst
nicht begehren" zu versündigen.
16. November 1944
Seit längerer Zeit weiß ich, daß ich zum Tode verurteilt werde. Nur der
Gedanke an Dich und die Kinder macht es mir schwer, vor allem der Gedanke
an Deinen Schmerz. Daß Gott Dich und die Kinder in Gnaden führen und
trösten und stärken möge, ist mein tägliches innigstes Gebet. Sonst aber
sterbe ich gern, wenn Gott mich abruft.
Du weißt, wie ich immer den Tod als Freund und Erlöser angesehen habe und
nicht als etwas Furchtbares und eine Strafe. Nur die Gewißheit des Todes
macht das Leben erträglich. Nur durch den Tod können wir glücklich werden.
Glück ist nur und nur bei Gott. Alles Irdische ist vergänglich, ist eitel
(Prediger Salomo). Gewiß, wir sollen nicht weltabgewandt leben, sondern
mit ganzer Kraft in den irdischen Dingen, sei es Politik, Wirtschaft,
Kultur usw. arbeiten, um zu versuchen nach bester Überzeugung diese Dinge
nach Gottes Willen zu gestalten, wir dürfen und sollen uns auch an den
irdischen Gaben Gottes freuen. Aber wir dürfen nie unser Herz an
irgendetwas Irdisches hängen.
Denn alles dies wird vergehen, auch alle Staaten und Völker. Unsere Seele
aber ist unsterblich. Wie unendlich klein ist, mit dieser Unsterblichkeit
verglichen, die Dauer auch des gewaltigsten Weltreiches! Nur das ist
wirklich wichtig für uns, daß unsere Seele zu Gott kommt, nur das, nur
das, und nichts anderes. Wir dürfen traurig sein über den Verlust
irdischer Dinge, den Untergang dessen, wofür wir unser ganzes Leben
gearbeitet haben, aber wir brauchen und dürfen nicht verzweifeln; es ist
nur ein Verlust für einen so kurzen Augenblick wie das Leben und unser
Glück wird dadurch überhaupt nicht berührt, das ist allein bei Gott,
jenseits des Lebens, und die Pforte dazu ist der Tod.
Auch der Verlust des liebsten Menschen nimmt uns das Glück nicht. Wir
werden nach einer kurzen Prüfung mit unseren Lieben wieder vereint sein in
Gottes Herrlichkeit, wo Er abwischen wird alle Tränen. Das ist gewißlich
wahr. Wir müssen das glauben, müssen uns dazu durchringen und wenn es noch
schwer wird und wir immer wieder einmal zurückfallen.
Gott gibt uns die Kraft dazu wenn wir darum bitten mit der ganzen Kraft
des Herzons, Ihm das Herz öffnen: Dein Wille geschehe. Gott bleibt nicht
stumm, wenn es auch Zeiten gibt, wo wir IHN nicht hören. Gott ist die
Gnade, Gott ist die Liebe. Alles. Selig ist der Mann, der die Anfechtung
erduldet. Fürchte Dich nicht, glaube nur. Fürchte dich nicht, ich habe
Dich erlöset, ich habe Dich bei Deinem Namen gerufen, Du bist mein.
Ich habe Dich je und je geliebet darum habe ich Dich zu mir gezogen aus
lauter Güte. - Denke zu allen Zeiten an das wunderschöne Lied " Weiß ich
den Weg auch nicht, Du weißt ihn wohl ..." Sei darum nicht traurig, wenn
Gott mich von diesem Leben erlöst und zu sich nimmt. Das ist meine große
Bitte.
22. November 1944
Heute sollte ich Dich, meine liebe Alice, sprechen.
Ich habe mich unbeschreiblich darauf gefreut — da kam die Nachricht von
Wilfrieds schwerer Erkrankung. Wieder kommt unmittelbar vor dem so
sehnsüchtig erwarteten Wiedersehen etwas dazwischen. Werde ich Dich noch
einmal sehen? Gott erhalte Wilfried am Leben. Aber „Dein Wille geschehe".
Was Gott tut, das ist wohlgetan. Er legt uns eine Last auf, aber Er hilft
auch. Dieses so kurze Leben wird Gott zu Seiner Zeit beenden und uns in
die ewige Heimat aufnehmen, in die Seligkeit. Arme Alice, was mußt Du
alles tragen, und wie tapfer trägst Du es.
Gottes Kraft ist in Dir viel stärker als Du es weißt. In allem Kummer
behältst Du den Kopf oben und denkst liebevoll an andere. Sei getrost,
Gott wird es Dir einst lohnen. Du bist, ohne daß Du es weißt, ein Mensch,
der auch andere zu Gott führt. - Ja, es ist ein sehr trauriger Tag, aber
Gott hat mein Herz still und ruhig gemacht. In allem Kummer könnt' ich
doch den Psalm lesen: „Lobe den Herrn, meine Seele". — Außer der Sorge um
Wilfried ist es die Sorge um Dich, die mich belastet.
Der Tag, wo Du erfährst, daß ich tot bin! Jetzt hoffst Du noch. Wie wird
dieser Schlag Dich treffen! Möge Dir der barmherzige Gott beistehen. Er
wird es tun. Es gilt für uns alle:
„Drum wart ich still,
Dein Wort ist ohne Trug.
Du weißt den Weg für mich,
das ist genug."
Fürchte Dich nicht, glaube nur.
27. November 1944
Werdet Ihr einmal ganz mittellos dastehen in diesen furchtbaren Zeiten?
Gott allein weiß es. Aber ein Vermächtnis kann ich Euch hinterlassen, das
unvergänglich ist und mehr als alles irdische Gut, das ist mein
Einsegnungsspruch: „Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes". Dieses
Wort laßt Leitstern Eures ganzen Lebens sein, dann kann Euch nichts Böses
widerfahren, dann werdet Ihr selig werden. Wer den Willen Gottes tut, der
bleibet in Ewigkeit.
Die irdischen Aufgaben sollt Ihr mit allem Ernst und nach Gottes Willen
erfüllen. In diesen vergänglichen Dingen muß der Mensch sich nach Gottes
Willen abmühen. Aber alles dies wird vergehen, unvergänglich ist nur, was
Ihr für Eure Seele und die Seelen anderer tut. Und das ist mein
Vermächtnis, mein letzter Wille, daß Ihr Euer ganzes Leben Gott vor Augen
und im Herzen haben sollt, in Glauben, Gehorsam, Vertrauen und Liebe. Gott
sollen wir lieben über Alles.
Ihr müßt Euch ganz frei machen von den Anschauungen, in denen in heutiger
Zeit fast alle Menschen leben, die dem Diesseits einen viel zu großen Wert
beilegen. Bedenkt doch, diese Erde, auf der wir leben, ist, verglichen mit
dem Teil der Welt, den wir kleinen Menschen kennen und der unzählige
Millionen Lichtjahre groß ist, ein unendlich winziges Staubkörnchen nur. —
Und da sollte, was auf diesem Staubkorn geschieht, in der unendlichen
Schöpfung Gottes wichtig sein? Wie kurz ist auch das längste menschliche
Leben, gemessen an der Ewigkeit, zu der wir berufen sind.
Es ist doch, nur ein so kurzer Augenblick. Auch das Schwerste geht
vorüber, und auch das Schwerste ist tragbar für den, der Gott um Kraft
bittet. Und wenn der Gehorsam gegen Gott die furchtbarsten Leiden bringt,
so dürfen wir doch keinen Augenblick zögern, Gott zu gehorchen, um unserer
selbst, das ist um unserer Seele willen. Das irdische Leid vergeht, die
Seele aber ist unsterblich. Wenn alle jetzigen Völker vergangen sein
werden, werden wir, wird unsere Seele noch sein.
Ich weiß, wie schwer es ist, zu glauben, zu gehorchen, das Böse in uns zu
bekämpfen; wie schwer es ist, das Herz von allen irdischen Bindungen frei
zu machen. Immer wieder wird der Mensch straucheln und füllen, immer
wieder. Werdet nicht mutlos in diesem Kampf. Gott hilft auch. Von Jugend
auf bedenkt, daß Ihr sterben müßt. Immer wieder macht Euch für diesen
Augenblick bereit.Öffnet täglich Euer Herz Gott, im Gebet, im Hören. Immer
wieder, immer wieder, Er hilft, Er gibt Seine Kraft und Seinen Trost.
Sucht Euer Glück in Gott und Ihr werdet es finden. Er hält uns an unserer
Hand und führt uns und nimmt uns endlich in Ehren an. Ergebt Euch ganz in
Gottes Willen, Er wird's wohl machen. Lehnt Euch nie und nie, auch nicht
im geheimsten Kämmerchen Eures Herzens gegen das auf, was Gott über Euch
verhängt hat, und Ihr werdet es erleben, wie unvergleichlich viel leichter
sich alles ertragen läßt. Ich schreibe kein einziges Wort, was ich nicht
selber mit Dank gegen Gott erlebt habe. Es ist die Wahrheit von Ewigkeit
zu Ewigkeit.
Das Alles aber fällt dem Menschen nicht in den Schoß. Es muß erkämpft
sein, in stetigem Kampf mit sich, täglich, ja manchmal stündlich. Aber der
innerlich gefühlte Segen bleibt nicht aus, der alles aufwiegt. Glaubt es
mir. Ich habe es erlebt. Lest und lernt doch auswendig das Lied von Paul
Gerhard „Ich bin ein Gast auf Erden". Ihr kennt mich ja und werdet mich
nicht dahin mißverstehen, daß Ihr kopfhängerische, trost- und freudlose
Betschwestern und Betbrüder werden sollt. Ihr werdet wissen, daß mir diese
ölige, sogenannte Frömmigkeit zuwider ist.
Meine liebe, liebe Alice, ich danke Dir für alle Deine große Liebe, für
Alles, was Du mir gewesen bist. Mein Herz ist immer bei Dir, und meine
innigsten Gebete galten Dir. Sieh, ich bin dann bei Gott, in Seinem Glück.
Das soll Dich trösten. Gottes Wille ist heilig und gut. Und das ist mein
tröstlicher Glaube und das muß auch Dir Trost geben, daß wir uns
wiederfinden werden bei Gott. Nach einer kurzen Prüfungszeit wirst Du mit
mir wieder bei Gott vereint sein. Wir können wirklich durch Gottes Gnade
sprechen: Tod, wo ist Dein Stachel, Hölle, wo ist Dein Sieg? Gott aber sei
Dank, der uns den Sieg gegeben hat. Gegen unseren Glauben ist alle
Niedrigkeit, alle Menschenmacht ohnmächtig.
Alles Leid wird sich wandeln, ganz gewiß, in Seligkeit. Gott gebe Dir
Kraft und Trost, ja, Er wird es tun, Du wirst es fühlen. Er segne Dich und
behüte Dich von nun an bis in Ewigkeit, bis auch Du einst durch den Freund
und Erlöser Tod gelangst aus dem Glauben in das Schauen, aus der Hoffnung
in die Erfüllung. Alles Leben hat nur einen einzigen Sinn, ein einziges
Ziel: Näher zu Gott.
Gott wird Dir überreich lohnen alle Deine selbstlose Liebe und Güte.
2. Dezember 1944
Gestern habe ich Haftbefehl wegen Hochverrats erhalten.
Nun wird es wohl nicht mehr allzu lange dauern. Es ist mir doch eine
Erleichterung, daß ich diese Aufzeichnungen gemacht habe. Ich hoffe doch,
daß sie in Deine Hände gelangen.
Der Wert eines Volkes wird allein dadurch bestimmt, wie weit er auf Gott
gerichtet ist. Es kann ein nichtchristliches Volk Gott viel näher stehen
als ein christliches. Die heutigen christlichen Völker stehen Gott sehr
fern. Aber es kommt in der Welt eine andere, bessere Zeit. Ich glaube, daß
in dem, was geschrieben habe, doch vieles ist, was in den Händen von
Menschen, die es mit dem Herzen verstehen und von demselben Glauben
ergriffen und beherrscht sind, sich weiter gestalten ließe zum Segen.
Einmal wird dieser Glaube in der Welt siegreich das Haupt erheben. Und nun
noch einmal: Liebe, liebe Alice, gib Dich nicht zu stark dem Schmerz über
meinen Tod hin. Es ist nicht recht.
Denn sieh, das Beste bleibt Dir doch: Gott.
7. Dezember 1944
Gestern habe ich Dich endlich gesehen und gesprochen. Das war mein letzter
großer Wunsch. Ich war immer in Unruhe, daß wieder etwas dazwischen kommen
würde. Nun habe ich diese letzte große Freude noch erlebt:. Ich danke Gott
dafür und daß Er Dich in dem schweren Luftangriff behütet hat. Wie
glücklich hust Du mich in dieser kurzen halben Stunde gemacht. Nun habe
ich Dich wohl zum letzten Mal in diesem Leben gesehen. Der Abschied war
mir doch sehr schwer.
Ich habe Dich bewundert, wie stark Du Dich in der Hand hattest und Deinen
Schmerz nicht zeigtest. Gott hat Dir viel Kraft gegeben.
Das ist mir ein großer Trost. Nach menschlichem Ermessen werde ich Euch
alle nicht wiedersehen — nie wieder — und dennoch: Dein Wille geschehe.
10. Dezember 1944
Zweiter Adventssonntag! Habe wieder eine stille Feierstunde gehalten.
Viele Erinnerungen aus meinem Leben tauchen auf. Es sind eigentlich immer
freundliche Erinnerungen. Jetzt, wo keine weltlichen Geschäfte und Sorgen
den Blick nach innen und oben stören, begreife ich immer besser, worin das
Glück auf Erden liegt. Es liegt in der Liebe zu Gott und Menschen, in
Selbstlosigkeit, Güte und Freundlichkeit, womit sich Ernst, Strenge,
Schärfe, Kampfbereitschaft durchaus vereinigen lassen. Wieviel habe ich
daran fehlen lassen.
Ich habe bisher gedacht, es müßte ein großes Unglück sein, völlig zu
erblinden. Das glaube ich nicht mehr. Ich könnte mir vorstellen, daß man
auch als Blinder sehr glücklich sein kann.
Ich möchte, daß es recht viele hörten und in sich aufnehmen, daß das Glück
im Innern liegt und nicht in äußeren Dingen; allein in der lebendigen
Verbindung mit Gott.
17. Dezember 1944
Dritter Adventssonntag! Mit Gesangbuch, Bibel und Deinen Sprüchen und
Liedern habe ich wieder einen schönen stillen Morgen gehabt. Wie sind doch
die Menschen mit ihren Gedanken an die kleine Erde gebunden, auch die
Religionen. Ich bin überzeugt, daß eine religiöse Erneuerung, die kommen
wird und sich jetzt schon vorbereitet, welche mit der Überhebung des
Menschen aufräumt, und das Bewußtsein von der Winzigkeit und geringen
Bedeutung der Erde den Menschen aufzwingt, von unermeßlichem Segen für die
Menschheit sein wird. Nicht als ob ich glaube, daß die Menschen
grundlegend gewandelt werden können.
Ach nein, aber auf eine Zeit entsetzlichen Glaubensverfalls wird eine Zeit
des Glaubensaufschwungs kommen. Aber wir müssen die Stimme Gottes hören
wollen, der sich offenbart und redet, genau so und nicht anders als Er es
zu irgend einer anderen Zeit, zu Heiden und Christen getan hat. Wer da
sagt, Gott hat sich früher einmal offenbart und jede Offenbarung, alles
Reden geht nur durch das Mittel der früher geschehenen Offenbarung, die
aufgezeichnet und nachzulesen ist, der stört die lebendige Verbindung der
Menschen mit Gott.
27. Dezember 1944
Nun liegt das Weihnachtsfest wieder hinter uns. Am Heilig Abend erging es
mir eigen. Ich habe dem Abend, dem Weihnachtsbaum und dem Aufbau der
Geschenke mit solcher Spannung entgegengesehen wie sonst nur als Kind. Ich
glaube, ich habe mich kaum früher jemals über die Geschenke so gefreut wie
diesmal. Es waren natürlich sehr sehnsüchtige Gedanken, die in Liebe zu
den Meinigen wanderten. Aber es kam keine Trübe Stimmung auf. Ich habe die
Weihnachtsgeschichte gelesen und alle Lieder, die Ihr in Schmenzin singt.
Es wurde so ein schöner, stiller Abend.
Ich fange jetzt an, die Wahrheit und den Segen der Worte zu erfassen, daß
wir nicht unnötig sorgen sollen. Auch ich habe zuviel für den morgigen Tag
gesorgt. Wenn idi glaube, daß mein Herz verhältnismäßig wenig an irdischen
Dingen haftete, so war es doch noch zuviel, und zu wenig Gottvertrauen.
Man soll das Seine in irdischen Dingen tun, aber mit mehr Gottvertrauen
die Zukunft Ihm anheimstellen. Man wird dadurch sehr viel glücklicher —
und besser.Möchten doch alle, die dies lesen, es sich zu Herzen nehmen und
weitergeben. Denn dazu sind wir da, daß wir die Wahrheiten, die wir
erkannt haben, nicht für uns behalten. Weitergeben können wir sie mit
Erfolg dann, wenn wir nach ihnen leben.
Genieße, wns Dir Gott beschieden,
Entbehre gern, was Du nicht hast.
Ein joder Sland hat seinen Frieden,
Ein jeder Stand hat seine Last.
Diesen Vers hat mir Mama eingeprägt. Er enthält eine der wichtigsten
Wahrheiten. Nur wer in diesem Sinne lebt, kann Zufriedenheit kennen und
ohne Zufriedenheit kein Sichglücklichfühlen.
Du sollst nicht begehren! Die Sünde gegen dieses Gebot ist das Kennzeichen
unserer Zeit.
31. Dezember 1944
Silvesterabend. In Liebe und Dankbarkeit bin ich mit dem Herzen bei Dir,
den Kindern und bei Mama. Jetzt werdet Ihr wohl im Salon beim
Weihnachtsbaum sein und die schönen Lieder singen. Alle früheren
Silvesterabende ziehen an mir vorüber. Ich glaube, ich habe seit 30 Jahren
keinem Neuen Jahr mit solcher inneren Ruhe entgegengesehen wie heute,
„denn Du hältst mich bei meiner rechten Hand, Du leitest mich nach Deinem
Rat und nimmst mich endlich mit Ehren an."
„Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln." Möchtet Ihr doch alle
von allzu trüber Stimmung freibleiben. Mein ganzes Leben zieht, wie schon
so oft, an mir vorüber. Ich sehe es erst jetzt so ganz, wie dankbar ich
Gott sein muß. Wie viel Glück und Gutes hat er mir gegeben und gibt es mir
täglich.
Und nun befehle idi mich und Euch alle in Gottes treue Hände. Möge er uns
alle einst vereinen in Seinem Reich, in unserer Heimat.
6. Januar 1945
Seit langer Zeit ist meine Stimmung zum ersten Mal wieder etwas gedrückt.
Aber durch Fühlungsuchen mit Gott im Gebet wird diese Stimmung nicht
übermächtig. Ich habe es zu oft erfahren, Gott hält einen an der Hand und
Er hilft weiter. Ich habe diese Tage aus tiefstem Herzen gebetet — doch
immer mit dem Zusatz: Dein Wille geschehe.
Ich glaube Du weißt gar nicht, was Du mir alles in dieser Zeit mit Deiner
selbstlosen Liebe gegeben hast. Vor allem hast Du mir in der ganzen Zeit
unserer Ehe Eins gegeben: Du hast mich besser gemacht und mir auf dem Wege
näher zu Gott vorwärts geholfen. Das ist das Höchste, was ein Mensch geben
kann. Ja, Gott ist die Liebe und Er ist barmherzig, Er hilft denen, die
Ihn suchen und Ihm blind glauben. Er ist so, wie Du in Deinem letzten
Brief schreibst: „Fürchte Dich nicht, ich habe Dich erlöst. Ich habe Dich
bei Deinem Namen gerufen. Du bist mein."
Und: „Es kann uns nichts geschehen als was Er hat ersehen." Und Sein Wille
ist gut. Das ist die Hilfe Gottes, daß ich Ihm auch in trüber Stimmung
noch danken kann. Die Gewißheit, daß jenseits des Todes in Gottes Reich
uns das Glück erwartet, ist der köstlichste Besitz. In dem Gefühl der
Verbundenheit mit Gott kann auch schon in diesem Leben Seligkeit liegen.
Aber solange wir im Körper sind, bleibt dieses selige Gefühl doch
behindert. Wie wird es herrlich sein, wenn wir den Körper verlassen haben.
Hier auf Erden müssen wir Geduld lernen, viel Geduld. Aber der Tag kommt,
wo Gott abischen wird alle Tränen.
Es ist wirklich so, je williger wir die uns auferlegte Last tragen, desto
leichter wird sie. Je häufiger und inniger wir uns an Gott wenden, desto
mehr nähert Er sich uns.
12. Januar 1945
Heute hat mir der Rechtsanwalt gesagt, voraussichtlich würde in etwa 14
Tagen gegen mich verhandelt. Die Todesstrafe wäre völlig sicher. Ich war
darauf gefaßt, aber ich wundere mich doch, einen wie geringen Eindruck
diese Mitteilung auf mich gemacht hat.
Es liegt wohl daran, daß mich nur noch die Liebe zu Dir, den Kindern und
Mama mit der Erde verbindet. Sonst glaube ich, hat sich meine Seele von
dem Irdischen weitgehendst freigemacht. Nur der Gedanke an Euch ist mir
schmerzlich. Sonst bin ich völlig ruhig.
Es geht zum Vater. Es ist eigenartig, daß ich mich dabei noch über Essen,
Rauchen und ein Buch harmlos freuen kann.
19. Januar 1945
Es war schön, Dich heute zu sprechen. Sehr glücklich darüber. Morgen also
Urteil. Ich befehle alles in Gottes Hände.
Literatur: Du hast
mich heimgesucht bei Nacht
Abschiedsbriefe und Aufzeichnungen des Widerstandes 1933 -1945
Herausgegeben von Helmut Golwitzer, Käthe Kuhn, Reinhold Schneider