MARIE KUDERIKOVA
1921 - 1943
Marie Kuderikova,
geboren am 24. März 1921 in Vnorovy in Mähren, ging nach dem Abitur als
Arbeiterin in eine Fabrik bei Brunn. Sie arbeitete in einer illegalen
Organisation, wurde im Dezember 1941 verraten, verhaftet und am 26. März
1943 in Breslau hingerichtet.
Breslau, 26. März 1943
Meine teuren Eltern, mein geliebtes Mütterchen und Väterchen, meine
einzige Schwester und kleiner Bruder. Teuerste Großmutter und Tante, meine
Freunde, liebe, teure Bekannte. Meine Familie. Ihr alle teuer in dem, was
in meinem Herzen das Liebste ist.
Ich nehme Abschied von Euch, ich grüße Euch, ich liebe Euch. Weint nicht,
ich weine nicht. Ohne Klagen, ohne Angstbeben, ohne Schmerz gehe ich fort,
schon, schon gelange ich zu dem, was doch nur Ziel, nicht Mittel sein
sollte. Zum Scheiden von Euch, und doch nur zur völligen Annäherung, zum
Einswerden mit Euch.
So wenig kann ich von meiner Liebe geben, nur die ernsteste Versicherung
ihrer Tiefe und Innigkeit. Innigsten Dank. Heute, am 26. III. 43, um halb
sieben Uhr abends, zwei Tage, nachdem ich mein 22. Lebensjahr erreicht
habe, atme ich zum letzten Male.
Und doch, bis zum letzten Augenblick: leben und glauben. Ich hatte immer
den Mut zu leben — ich verliere ihn auch nicht im Angesichte dessen, was
die menschliche Sprache Tod nennt.
Ich möchte Eure ganze Trauer, Euren ganzen Schmerz auf mich nehmen. Ich
fühle die Kraft, ihn auch für Euch zu tragen, und den Wunsch, ihn mit mir
zu nehmen. Bitte, bitte, habt sie auch, leidet nicht, weint nicht.
Ich liebe Euch, ich schätze Euch so. Wenn ich Eure Worte las, wuchsen mir
immer Flügel. Ihr tatet alles, was nur in menschlichen und liebenden
Kräften stand. Werft Euch nichts vor, alles weiß ich, alles fühle ich,
alles lese ich in Euren Herzen.
Heute ist ein schöner Tag. Ihr seid irgendwo auf dem Feld oder im
Gärtchen. Fühlt Ihr wie ich diesen Duft und diese Schönheit? Als ob ich es
heute geahnt hätte. Ich war spazieren, ich war an der Luft, die das
Fluidum des Frühlings, das Fluidum der Wärme trug, das Leuchten des Duftes
und der Erinnerung.
Der nakte Nerv der Seele wurde warm von der Poesie des Alltags berührt.
Der Duft gekochter Kartoffeln, Rauch und Löffelklappern, Vögel, Himmel,
Leben. Der alltägliche Pulsschlag des Lebens.
Liebt es, liebt einander, lernt die Liebe, verteidigt die Liebe,
verbreitet Liebe. Damit Ihr die Schönheit der selbstverständlichen Gaben
des Lebens empfindet wie ich, das wünsche ich mir. Damit Ihr empfangen und
geben könnt. Auch der heutige Nachmittag ist schön, ich fühle soviel Glut
und Liebe, soviel Glauben, soviel Entschlossenheit, daß ich die Arme
ausbreite und die Hände ausstrecke, damit Ihr es fühlt, damit Ihr es
empfangt. Ich fürchte mich nicht vor dem Kommenden. Auch wenn ich fehlte
und anderen weh tat, immer fühlte ich den Drang zum Guten, Hohen,
Menschlichen.
Mein ganzes Leben war schön. Brennend, glaubend, kämpfend und siegend. Ihr
wart sein Segen. Du, mein Mütterchen, mein Lämmchen, mein Vater, meine
Schwester und Jozinek, mein Großmütterchen und Tante. Ihr alle, die ich
geliebt habe und die mich gern hatten. Geliebte Menschen, liebes Leben und
liebe Welt. Ich kniee vor Euch, Ihr Teuersten meines Lebens, und bitte um
Liebe und Verzeihung.
Ich bitte um Verzeihung für alles und alle, die ich je verletzt habe. Auf
dem Wege nach dem Menschenideal habe ich mich oft verirrt — nur im Herzen
blieb der Glaube und in den Augen die Sehnsucht. Ich küsse Eure Hände und
danke Euch mit ganzem Herzen, mit meiner ganzen Seele, in der ernstesten
Stunde meines Lebens.
Ich trübe sie nicht mit Tränen, nein, ich begieße sie mit dem Lächeln der
Liebe, des Dankes und der Versöhnung und bitte auch um ein Lächeln. Einen
Kuß auf Deine Lippen, Dir, Mütterchen und Väterchen, Dir, geliebtes
Mädelchen und Bübchen, Euch, mein Großmütterlein und Tante.
Freut Euch, liebt Euch. Seid gegrüßt. Ich grüße alle und wünsche allen
tief und aufrichtig menschliches Glück.
„Dank Euch, und Liebe Euch, ach, klängen sie wie Glocken."
Eure Euch liebende Tochter Marie Kuderikova
Literatur: Du hast
mich heimgesucht bei Nacht
Abschiedsbriefe und Aufzeichnungen des Widerstandes 1933 -1945
Herausgegeben von Helmut Golwitzer, Käthe Kuhn, Reinhold Schneider