RICHARD KUENZER
1875 - 1945
Wirkl. Legationsrat
Dr. Richard Kuenzer, geboren am 6. Dezember 1875 zu
Freiburg im Breisgau, Wirklicher Legationsrat im Auswärtigen Amt, wurde
durch seine Vaterlandsliebe und intellektuelle Redlichkeit bereits sehr
früh in das Lager der Gegner des Hitler-Regimes geführt. Wie viele der
hervorragendsten Mitglieder des Widerstands gehörte er dem Freundeskreis
an, der sich im Haus der Witwe des Botschafters Solf, Frau Hannah Solf,
und ihrer Tochter Lagi Gräfin Ballestrem zu treffen pflegte. Als die
Gestapo gegen den Solf- Kreis vorging, wurde auch Kuenzer am 5. Juli 1943
verhaftet und unter Anklage gestellt. In der Nacht vom 22. auf 23. April
1945 fiel er mit zahlreichen gleichgesinnten Mitgefangenen einem von der
Gestapo auf dem Ausstellungsgelände am Lehrter Bahnhof verübten Massaker
zum Opfer.
Aus dem Gefängnis schreibt er an sein zwölfjähriges
Töchterchen
Donnerstag, 18. Mai 1944
Auf diesen Tag, an dem ich Dir endlich wieder schreiben kann, habe ich
mich schon lange gefreut, und heute, da Christi Himmelfahrt ist, ist es
endlich soweit. Es trifft sich gut, daß mir vor einigen Tagen Dein
allerliebstes Brieflein vom 27. April ausgehändigt worden ist, für das ich
Dir von Herzen danke.
Ja, mein liebes Kind, wäre es nur soweit, daß ich die Küsse, die Du mir
auf dem Briefpapier übermittelst, leibhaftig empfangen und genießen
könnte! In dem Schicksal, das über uns gekommen ist, ist es ein großes
Glück, für das wir nicht dankbar genug sein können, daß wir eine so
fürtreffliche Mamai haben.
Täglich denke ich dankerfüllten Herzens daran. Und wie oft am Tage stelle
ich mir vor, was Du jetzt gerade tun wirst. Ich sehe Dich des Morgens zur
Schule wandern, „eilen" wahrscheinlich. Ich vermisse während der
Schulstunden Deinen hochgehaltenen Zeigefinger. Wie hieß es immer in den
Berliner Schulzeugnissen, wenn man die Passivität bemängelte?
Dann leiste ich Euch im Geiste Gesellschaft bei Euren Mahlzeiten. Und des
Abends denke ich: jetzt legt sich Mönkie zur wohlverdienten Nachtruhe ins
Bett.
Ich hoffe in der Tat, daß Euer Schulbetrieb jetzt etwas ernsthafter wird,
damit Du Dir doch einen gründlichen Schulsack aneignen kannst, d. h.
Kenntnisse, die die Grundlage für alles Spätere bilden sollen. Es ist mir
ein großes Anliegen, daß Du namentlich fremde Sprachen tüchtig lernst,
auch darin kannst Du Dir Mamai zum Vorbild nehmen.
Vor allem denke ich an Französisch, das Du ja in der Schule noch nicht
hast. Ich treibe täglich tüchtig Französisch und würde mich freuen, Dir
darin behilflich sein zu können. Mein liebes Kind, schweren Herzens muß
ich wieder Abschied von Dir nehmen.
Du weißt, briefliche Nachrichten von Dir bereiten mir stets große Freude,
die nur durch ein Wiedersehen übertroffen würde.
Gebe Gott es uns bald! Bis dahin möge Er Dir Seinen Schutz gewähren!
Dich umarme ich in Liebe und Sehnsucht.
Dein Papai
Literatur: Du hast mich heimgesucht bei Nacht
Abschiedsbriefe und Aufzeichnungen des Widerstandes 1933 -1945
Herausgegeben von Helmut Golwitzer, Käthe Kuhn, Reinhold Schneider