Geboren am 22. Juni 1909; hingerichtet am 4. September 1944.
Am Vorabend seiner Verurteilung und Hinrichtung mit gefesselten Händen
geschrieben
3. September 1944
Mein Geliebtestes auf der Welt!
Dieses wird wohl der letzte Brief sein, den Du
auf dieser Welt von mir bekommst. Obwohl meine Gedanken seit unserer
Trennung Tag und Nacht um Dich kreisen und mein
Herz Bände füllen könnte, fällt es mir doch schwer, diesen Brief zu
schreiben.
Ich befürchte, mit allem Deinem armen geprüften Herzen nur neue Last
aufzubürden.
Trotzdem - Du Engel - sollst Du alles wissen und erfahren, wie ich die
letzten Wochen gelebt, gedacht und gefühlt habe.
Bestimmt stellt man sich, ohne selbst so etwas erlebt zu haben, alles viel
schlimmer vor, als es ist, wenn die Dinge Tatsache geworden sind und es
ein Ausweichen nicht mehr gibt.
Meine hierfür glückliche Natur und vor allem die Hilfe von Gott, um die
ich Ihn immer gebeten und die Er mir in reichem Maß gegeben hat, haben
mich alle Belastungen in einer Weise überstehen lassen, wie ich es vorher
nie für möglich gehalten hätte.
Es vollzieht sich eine völlige Wandlung, wobei das bisherige Leben
allmählich ganz versinkt und gänzlich neue Maßstäbe gelten.
Du hast dabei sogar durchaus auch Deine kleinen Freuden und ich habe auch
Momente gehabt, wo ich richtig vergnügt war. Die Anlässe sind nur eben
ganz andere geworden.
Ein nettes Wort von einem mitfühlenden Menschen, die Erlaubnis zu lesen
und zu rauchen, gelegentlich der Vorführung zu einer Vernehmung ein paar
Schritte über einen sonnigen Hof machen zu können und solcher
Kleinigkeiten vielerlei, erfreuen einen ganz genauso wie früher eine große
Unternehmung oder ein freudiges Ereignis.
Da ich meistens etwas Hunger hatte, freute ich mich über ein Stück
trockenes Brot oder auf die dünne Suppe geradeso wie früher auf ein dickes
Jagddiner.
Und es schmeckt dann mindestens ebenso.
Mein Geliebtes — ich schildere Dir das so ausführlich, damit Du nicht
denkst, Dein Heini hätte die 6 Wochen dicht an der Verzweiflung an die
Zellenwand gestarrt oder sei wie ein gefangenes Tier im Käfig auf und ab
gewandert.
So darfst Du Dir bitte diese Zeit nicht vorstellen.
Natürlich, mein Einzigstes, hat es auch sehr bittere und traurige Stunden
gegeben, wo die Gedanken dann ihre eigenen Wege gingen und ich alle Kraft
zusammennehmen mußte, um nicht nachzugeben und die Haltung zu bewahren.
Ich glaube es aber geschafft zu haben. Und auch diese Stunden waren nicht
umsonst und sicherlich notwendig, um mich dorthin zu führen, wo ich heute
stehe. Ich könnte diesen Zustand nicht besser
erklären als mit dem Wort aus der Bibel: »Fürchte Dich nicht, glaube nur.«
Bevor ich nun mich mit Dir, mein Geliebtes, über uns unterhalte, muß ich
noch auf zwei Sachen eingehen und Dir erklären, weil ich nicht möchte, daß
Du über ihre Motive nicht genau unterrichtet bist.
Ich habe zwei große Torheiten begangen. Einmal die Flucht aus Berlin.
Es war mehr oder weniger ein spontaner und undurchdachter Einfall, der zur
Durchführung kam, als sich plötzlich eine günstige Gelegenheit bot.
Ich hatte vor, in die Conower Gegend zu gelangen, um dort auf einem der
Güter unterzuschlüpfen.
Ich hatte mir nicht überlegt, daß ich den Betreffenden wahrscheinlich mit
hineingerissen hätte.
Es ist daher wahrscheinlich gut, daß ich kurz vor Feldberg von der
Landwacht wieder gefangen wurde.
Denn, wie ich höre, waren die dortigen Güter schon alle bewacht.
Weißt Du — mich überkam so ein starker Drang nach der Freiheit, daß ich
einfach nicht anders konnte, als einfach abzuhauen. Diese vier Tage Dir zu
schildern in ihren Einzelheiten würde .zu weit führen.
Jedenfalls hatte ich vier Tage die Freiheit, bin nachts gewandert, habe am
Tage in Wäldern geschlafen,
von Beeren, Milch und rohem Gemüse gelebt, genau wie die ausgerissenen
russischen Gefangenen.
Es ging mir an sich herrlich, und ich genoß die Freiheit mit jeder Faser.
Einen Haken hatte die Sache allerdings, und das waren meine Halbschuhe, in
die natürlich sofort Sand kam und ich mir daher in Kürze die Zehen
so wund gelaufen hatte, daß ich wirklich nur unter größter
Energieentfaltung mich langsam weiterschleppen konnte. Wäre das nicht
gewesen, hätte man mich auch nicht gefaßt.
Jedenfalls nicht vor dem Ziel.
Aber wer weiß, wozu es gut war. Ich wurde dann von dem netten Förster, der
mich angehalten hatte, noch verpflegt und dann von der Polizei nach Berlin
zurückgebracht.
So weit betrifft die Sache nur mich.
Wie ich aber erfahren habe, hat meine Flucht sich auch auf Euch
ausgewirkt.
Mein Einzigstes, das hatte ich mir natürlich nicht überlegt.
Der Gedanke, Dir und anderen geliebten Menschen zu allem anderen auch noch
hierdurch Leid zugefügt zu haben, ist mir ganz furchtbar.
Ich weiß aber, Ihr werdet mir diese Unüberlegtheit verzeihen.
Nun die zweite Sache, mein Engel, für die ich Dich auch um Verständnis
bitten muß, die bis ins letzte zu erklären aber wesentlich schwerer ist:
an dem Tage, als ich morgens um vier Uhr gefaßt wurde und dann nach einer
nicht schönen Zwischenstation in einem SS- Lager bei Fürstenwalde gegen 13
Uhr im Gefängnis in der Albrechtstraße abgeliefert und sofort einer
Vernehmung unterzogen wurde, war ich auf einmal mit meinen Nerven wirklich
fertig.
Die vier Tage wenig gegessen, die Anstrengungen wegen meiner Füße, die
Aufregung der Gefangennahme, die Überführung nach Berlin und das erste
Verhör, in dem mir sofort klar war, daß es über mich nichts
mehr zu verheimlichen gab, weil durch Aussagen bereits alles bekannt war,
gab mir einen derben Schock.
Nach dem Verhör sollte ich dann etwas schlafen und dann alles schriftlich
niederlegen, was ich in dem »Fall« nicht nur von mir (denn das stand ja
schon fest), sondern auch über alle anderen Freunde und Kameraden wußte.
Als ich aufwachte, nun kam die ganze Müdigkeit und Desperatheit erst
richtig nach, stand der Gedanke,
nun auch noch andere durch meine Aussagen hereinzureißen, als ein einfach
unüberbrückliches Hindernis vor mir. Infolge meines Zustandes fühlte ich
mich nicht mehr stark genug, diesem Ansturm zu widerstehen, andererseits
sagte ich mir, daß ich jede Achtung vor mir selbst verlieren würde, wenn
ich hierin nachgäbe.
Aus dieser verzweifelten Verfassung heraus, halb nicht mehr mit
kontrollierten Sinnen, versuchte ich dann dem allen ein Ende zu machen,
indem ich mir die Pulsader öffnen wollte. Ganz dazu kam es nicht, weil es
bemerkt wurde.
Geliebtes - bitte glaube mir, schon am nächsten Tag war mir diese Handlung
völlig unfaßlich, und ich kann auch heute noch nicht verstehen, daß ich
diesen Gedanken überhaupt erwogen habe.
Er liegt mir so fern. Und glaube mir bitte weiter, daß, wenn ich diesen
Schritt tat, es bestimmt mit keinem Gedanken in Rücksicht auf mich,
sondern nur im Hinblick auf andere geschah.
Mein Liebes, ich mußte Dir das berichten, denn Du sollst und mußt die
Zusammenhänge genau kennen.
Du hast mich bisher in allem verstanden, und ich traue fest darauf, daß Du
auch in dieser Sache nur
richtig nachempfinden kannst. Innerlich habe ich diesen Zwischenfall sehr
schnell überwunden,
weil ich ihn irgendwie gar nicht als zu mir gehörig ansah.
So - mein geliebtester Schatz - jetzt fühle ich mich erleichtert, nachdem
Du alles weißt.
Nun zu uns Beiden - mein armer über alles geliebter Mensch. Irgendwie geht
doch alles, was sich ereignet hat, über das Fassungsvermögen hinaus.
Daß wir inzwischen ein viertes Kind haben, ich es erst acht Tage danach
erfahren habe und diesen
kleinen Menschen, der doch von mir stammt, nie im Leben sehen werde, kann
ich einfach nicht begreifen.
Daß alles gutgegangen und Du gesund bist, ist mir der einzigste Trost.
Gib dem kleinen Wurm einen zarten Kuß auf sein Bäckchen von seinem
unbekannten Papi.
Sie wird am wenigsten unter all diesen Traurigkeiten leiden!
Geliebtes, wenn ich Dir zu Anfang schrieb, daß es auch schwere Stunden für
mich gegeben hat
so waren es in der Hauptsache die, in denen ich mich mit dem Schicksal
meiner so heißgeliebten kl. Familie beschäftigte. Ich kann eigentlich gar
nicht daran denken.
Wollen wir uns jetzt nicht alles im Einzelnen ausmalen.
Du weißt es so gut wie ich, und helfen kann ich Euch doch gar nicht. Mein
Geliebtes, das ist das
Entsetzliche an meiner Lage, Euch hilf- und schutzlos zurückzulassen, ohne
auch nur mit einem Ratschlag helfen zu können.
Ich zerbreche mir den Kopf, aber wie soll ich Dir einen vernünftigen Rat
geben, wo ich doch die herrschenden Umstände gar nicht kenne.
Meine einzige Zuversicht ist mein Glaube an Dich, an Deinen Mut und an
Dein in der Not starkes Herz.
Vollends wahnsinnig würde ich werden, wenn ich auch nur mit einem Gedanken
es für möglich hielte, daß Du mir innerlich einen Vorwurf machen könntest.
Du wirst immer davon überzeugt sein, daß ich nicht leichtfertig Eure
Zukunft zerstört habe, sondern einer Idee diente, von der ich geglaubt
habe, daß sie eine Rücksicht auf Familie und Privates nicht rechtfertige.
Der liebe Gott und das Schicksal haben gegen mich entschieden, aber ich
nehme die felsenfeste Überzeugung mit ins Grab, daß Du mich deswegen mit
keinem Gedanken richten wirst. Man darf sich auch nicht überlegen, wie es
wäre, wenn man anders gehandelt hätte, denn über diesen Überlegungen wird
man ganz mürbe. Man kann nichts Geschehenes ungeschehen machen.
Weißt Du — Geliebteses ist mir in den letzten Wochen so unbedingt
klargeworden, daß all unsere Schritte und unser Geschick letztlich nur vom
lieben Gott geleitet werden.
Auch in meiner Lage habe ich von Anfang an das ganz bestimmte Gefühl
gehabt, daß alles nach Gottes Willen abrollt. Einen schönen Spruch lege
ich Dir ans Herz wegen seiner Wahrheit: »Sorget nicht, sondern lasset in
allen Dingen eure Bitten im Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott
kundwerden.«
Und werden unsere Bitten nicht erfüllt, so müssen wir uns sagen, daß
Gottes Wege nicht unsere Wege sind und wir nie wissen können, was für uns
das Beste ist.
Mein Engel, ich werde Dir in dieser Form fremd sein, aber glaube mir,
diese Wochen haben mich wirklich gläubig gemacht und ich bin unendlich
dankbar dafür.
Der christliche Glaube und der Glaube an ein »himmlisches Reich« sind das
Einzigste, was einem in der Not hilft. Ach, mein Liebes - wie oft habe ich
an unsere gemeinsamen Versuche gedacht und wie unendlich gerne würde ich
jetzt mit Dir über alles sprechen.
Der Weg dorthin führt aber wohl nur über Leid, und es muß erst einmal
alles gewaltsam von einem gerissen werden. Erst dann kann man eine neue
Kreatur werden.
Was für ein sündiger Mensch ich bisher war, ist mir erst jetzt klar
geworden. Es ist sehr viel verlangt, daß der liebe Gott mir das alles
verzeiht, wo ich doch erst zu Ihm gefunden habe, wo die wirkliche Not
begann.
Aber ich habe Ihn oft darum gebeten und glaube, daß Er mich erhört hat.
Jedenfalls werde ich in diesem Glauben sterben und ohne Furcht und Angst.
»Wachet, steht im Glauben, seid männlich und seid stark« soll mich bis
zuletzt leiten. Es ist mein Einsegnungsvers.
Eine große Hilfe war mir, daß Ich in Königsberg und in Berlin mir eine
Bibel beschaffen konnte, die meine Hauptlektüre war. Das ist mein Wunsch
und guter Rat an Dich, mein Geliebtes, versuche ernsthaft, ein wirklicher
Christ zu werden.
Es ist bestimmt die stärkste Waffe, die man haben kann.
Wenn man will und immer wieder darum bittet, versagt sich einem der liebe
Gort auch nicht.
Dir bestimmt nicht, denn Dein Herz ist so gut. Mein Liebes, ich habe Dir
auch dieses alles so ausführlich geschildert, weil ich will, daß Du alles,
was mich bis zu meinem letzten Tag bewegt hat, genau weißt.
Ich bin übrigens nirgends wirklich schlecht behandelt worden und habe
überall Menschen gefunden,
die gut zu mir waren und sich aus ehrlichem Mitgefühl um mich sorgten.
Manchmal war ich richtig
gerührt darüber.
Es gibt überall böse, aber auch viele gute Menschen.
Weißt Du, ich habe so oft an unsere Gespräche gedacht, worin Du mich
anhalten wolltest, mehr geistige als irdische Schätze zu sammeln.
Wie hast Du nur recht gehabt! Wo sind alle irdischen Schätze hin?
Vergangen wie eine Dampfwolke! Das liebe Steinort...
Mein Geliebtes, ich kann das alles nur andeuten, hätte natürlich noch viel
mehr zu sagen, aber ich kann schon kaum mehr schreiben und kann ja auch
nicht alles in diesem einen Brief sagen, und ich darf jetzt nicht
sentimental werden. Der Gedanke, daß wir beide, die wir doch so ganz
zusammengehören, uns nun nie, nie wieder auf dieser Erde sehen werden, ist
für mich unfaßlich. Sieben herrliche Jahre haben wir zusammengelebt Du
bist auch jetzt niemals von mir gewichen.
Ich habe immer das feste Gefühl gehabt, daß Du neben mir hergehst, und mit
diesem Gefühl werde ich bis zur letzten Sekunde bleiben. Wir wollen
dankbar sein für alles, was wir aneinander und miteinander gehabt haben.
Für Dich, Geliebtes, ist ja alles viel, viel, schlimmer als für mich.
Für meine Person, dessen sollst Du gewiß sein, fürchte ich den Tod nicht.
Ich fürchte ihn nur im Hinblick und im Gedanken an Dich und unsere
geliebten süßen Kinder. Wie wirst Du ihnen das nur erklären? Sie sind noch
Gottlob noch sehr jung und werden das wohl so ganz nicht verstehen.
Wer weiß, was überhaupt die Zukunft bringt! Um eins bitte ich Dich. Du
wirst die nächste Zeit sehr traurig sein, das weiß ich und kann es Dir
doch nicht ersparen.
Ich weiß, daß Du mich bestimmt nicht vergessen wirst. Aber wenn Ihr von
mir sprecht, tut es mit frohem Sinn und nicht so gewiß traurig verhalten,
wie man das meistens erlebt, wenn von Toten gesprochen wird. Ich habe mein
kurzes Leben fröhlich (vielleicht zu fröhlich) durchlebt und möchte, daß
man mich auch so in Gedanken behält. Du wirst verstehen, wie ich das
meine!
- Kein Mensch kann sagen, wie Dein Leben nun weitergehen wird.
Wo ich auch bin, werde ich immer für Dich beten. Gebe Gott, daß Dir
größeres Leid erspart wird.
Du bist das Allerliebste, was ich auf dieser Welt zurücklasse.
Hätten wir uns doch wenigstens noch einmal sehen und umarmen können. Es
war nicht möglich! Bitte, bitte, zergräme Dich nur nicht um mein
Schicksal. Ich weiß, daß man sich, wenn einem ein lieber Mensch aus der
Welt gegangen ist, genau vorzustellen versucht, wie alles im Einzelnen war
und was er durchgemacht. Ich habe Dir ja schon gesagt: ich habe keine
Furcht, ich bin innerlich mit mir fertig, ich werde stolz und aufrecht
allem entgegensehen. Gott bitten, daß Er mir Seine Kraft nicht entzieht,
und mein letzter Gedanke wirst Du und meine Kinder sein. »Des Todes
rührendes Bild steht nicht als Ende dem Frommen und nicht als Schrecken
dem Weisen.«
Ich will mich weder als Frommen noch als Weisen bezeichnen, sehe das Ende
aber in diesem Sinne.
(Diesen hübschen Vers sagte mir heute mein Verteidiger.)
Einzigstes - Du glaubst nicht, wie schwer es mir fällt, diesen Brief und
damit unser letztes Gespräch zu beenden, aber mal muß es sein.
Wir werden uns über den Tod hinaus so liebbehalten, wie wir uns im Leben
geliebt haben.
Dieser Brief wird Dir weh tun, aber ich mußte doch noch einmal alles mit
Dir besprechen. Der liebe Gott beschütze Dich und unsere Kinder auf all
Euren Wegen. Es umarmt Euch und liebt Euch über alles auf der Welt
Euer Peps und Dein Heini
Literatur: Du hast
mich heimgesucht bei Nacht
Abschiedsbriefe und Aufzeichnungen des Widerstandes 1933 -1945
Herausgegeben von Helmut Golwitzer, Käthe Kuhn, Reinhold Schneider