PETTER MOEN
1901 - 1944
Du kannst die Frage
nach Gott nicht zum Verstummen bringen. Plinius an Kaiser Trajan
Petter Moen wurde 1901 als Sohn frommer pietistischer Eltern geboren. Er
war Versicherungs-Mathematiker in Oslo, und in der norwegischen
Widerstandsbewegung Leiter der gesamten illegalen Untergrundpresse. Als
solcher wurde er am 4. Februar 1944 verhaftet, unter verschärften
Bedingungen gefangengehalten und nach sieben Monaten mit 400 Häftlingen
nach Deutschland deportiert. Das Schiff der Gefangenen lief im Skagerrak
auf eine Mine und versank, wobei auch Petter Moen sein Leben verlor. Die
Aussagen eines der wenigen Überlebenden führten zur Entdeckung des
Tagebuches, aus dem hier Auszüge folgen. Unter dem Fußboden der Zelle des
Osloer Untersuchungsgefängnisses fand man Hunderte von Papierrollen, die
in einer kaum noch lesbaren Lochschrift das Tagebuch enthielten.
Am 7. Tag meiner Gefängnishaft in der Möllerstraße 19
Bin zweimal verhört worden. Wurde gepeitscht.., Habe entsetzliche Angst
vor Schmerzen. Aber keine Angst vor dem Tode.
8. Abends
Von neuem Angstzustände.
Weinte.
Ich habe versucht zu beten.
Problem: Angst und Verantwortung.
9. Tag
Fortwährend Angst. Ich muß sie überwinden. Die Schmerzen der Selbstprüfung
sind groß. Alles ist unzugänglich: Wille, Verstand und Moral... Mutter in
deinem Himmel, bete für mich. Mutter war gut.
10. Tag
Die Einsamkeit lastet schwer. Quousque tandem, Domine?
Oh! Monate? Ein Jahr? O Gott!
Es ist Sonntag, der 13. 2., Mutters Geburtstag und Begräbnistag. Ewig
gesegnet sei sie. Ich will heute im Gedenken an Mutter Ruhe finden. Oh!
Hätte ich doch ein so tapferes Herz wie sie. Dann würde die Angst ihre
Macht über mich verlieren.
Mutter dachte immer an andere. Darin lag ihre Stärke. Und in ihrem Glauben
an Gott. Mutter! Schenk mir dein starkes Herz und deinen Glauben! Ich
brauche sie so bitter nötig. Ich will Mutters Weg versuchen. Es ist jetzt
beinahe still in mir. Wie lange wird das dauern?
10. Abends
Wenn die in der Victoria - Terasse [Hauptquartier des SD] darauf
verfallen, mich gefährlich zu mißhandeln, dann... Ich will heute abend zu
dem Gott meiner Mutter beten, daß das an mir vorübergehe. Ich habe
gebetet. Die Wache macht sich lustig über mich wegen meiner langsamen,
schlingernden Bewegungen. „Gradegehen!" heißt das Kommando.
Die Angst lauert ununterbrochen in meinem Innern. Herr Jesus! hilf mir!
Ich knie und bete. Mein Weg zur Erkenntnis Gottes muß schwer werden. Nur
Leiden kann mich belehren. Oder die Erlösung vom Leiden. Ich ahne das
Mysterium des Leidens. Es ist Abend. Ich habe heute viel geweint.
Am 11. Tag
Ich werde heute 43 Jahre alt. Ich habe mein Leben mißbraucht und verdiene
die Strafe, die mich jetzt von der Hand der Ungerechten trifft. Mit meinen
Gedanken streife ich heute an der Peripherie der Frage nach dem Glück
umher. Ich bin nie in meinem Leben glücklich gewesen, — nicht einen
einzigen Tag.
Aber unglücklich bin ich häufig gewesen, bis an die Grenze zum Selbstmord.
Von jetzt an will ich das Glück suchen. Vielleicht liegt es im Glauben, im
Opfer, im Gebet? Ich kann jetzt niederknieen und beten. Nicht daß ich
glaube, aber ich bete um Glauben. Seltsam, seltsam — daß ich das bin.
Wohin soll das führen?
11. Abends
In mir war heute den ganzen Tag eine so merkwürdige Leere. Auch die Angst
ist geschwunden. Ist das eine psychische Müdigkeit, oder ist das wirklich
— Mutters Hilfe? Ich hoffe, daß ich weiterleben und einen Weg gehen darf,
der zum Guten führt, — weg von Gewalt, Eitelkeit und Gewinnsucht.
Ich habe mit Tränen zu Gott gebetet für Victor und Erik, daß ihnen das
Leiden erspart bleiben möge und daß sie weiter leben dürfen. Ich selber
will auch gerne leben. Aber noch wichtiger für mich ist es jetzt, einen
Gott zu finden. Gibt es ihn nur mit dem Tode - dann muß ich sterben.
12. Tag
... Es kann sein, daß das der Tod für mich wird. Streut meine Asche in
alle Winde, und vergeßt mich hinterher, und dann laßt es gehen, wie es
gehen kann. Ist der Glaube mehr als ein Wunschmechanismus der Seele? Kann
die Realität Gottes noch anders bewiesen werden als dadurch, daß ich an
ihn glaube? Bete, sagen die Pastoren, bete zu Jesus, dann schenkt er dir
Glauben oder Frieden oder Mut.
Aber dann, sage ich, verhält es sich wohl so, daß das Gebet Glauben,
Frieden oder Mut schafft.
Ist es so, dann sagt mir mein Verstand, daß ich viel beten muß. Ach, hätte
ich doch jemand, mit dem ich sprechen könnte! Hier aber ist nur das
Rasseln der Riegel und der schweren Schlüssel.
Und ich bin „Strafgefangener". Ach, wie sehr ist doch Davids Gebet mein
Gebet: Herr, nimm das steinerne Herz aus meiner Brust und gib mir ein
fleischernes.
Das Steinherz ist die Wohnung der Sünde. Mutter, liebe Mutter, zu dir rufe
ich: Gib mir dein Herz!
12. Abends
Die Zukunft sieht dunkel aus für uns politische Gefangene. Außer dem
individuell verhängten Todesurteil oder dem Tod ohne vorheriges Urteil
befürchte ich Massenhinrichtungen.
Eine höhere Macht mag uns beistehen. Auf den Knien habe ich zu Vaters und
Mutters Gott gebetet. Ich betete für mein eigenes und meiner Kameraden
Leben.
Ich muß viel weinen. Ich bin nicht tapfer. Ich bin kein Held. Ich kann
nichts daran ändern. Ich bin nur abgrundtief unglücklich.
16. Tag
Noch ein paar Worte bei dem schwindenden Tageslicht: Ist mein „Verlangen
nach Gott" aufrichtig? Es kann ein „argumentum ad hoc" sein, — ein Produkt
der Gefängnishaft. Man hat behauptet, der Glaube an einen Gott sei ein
Erzeugnis der Angst — der Naturangst und der Todesangst. Wenn es sich so
verhält, bin ich also auf dem rechten Wege. Ich glaube, daß ich „Gott
finden" kann durch Leiden, Angst und Gebet. Habe ich also ein Kunststück
mit mir selber fertiggebracht?
Ist die geistige Übung Meister geworden? Diese Frage kann ich heute nicht
beantworten.
Ich weiß nur, daß Leiden und Angst entsetzliche Realitäten sind und daß
ich in der Stunde des Leidens und der Angst rufe: Gott, hilf mir! Dieser
Ruf hilft mir. Er beschwichtigt die Angst und hält sie bisweilen von mir
fern. Hat Gott also geholfen?
32. Tag
"Wieder und immer wieder muß ich mich selbst fragen: kannst du glauben?
Ich spreche vom Glauben an die Lehre der Kirche, oder davon, den Glauben
zu teilen, von dem Vater und Mutter sprachen: Christus ist Gottes Sohn und
ist für uns gestorben.
Wer an Ihn glaubt, wird das ewige Leben erben. Ich weiß, draußen in der
Freiheit würde ich antworten: nein, das kann ich nicht. Meine Erfahrung
verbietet es mir. Jetzt sage ich nicht rundweg nein. Bei mir ist nämlich
die Erfahrung hinzugekommen, daß ich in der äußersten Not rufe: Herr, mein
Gott, hilf mir! Jesus, erlöse mich!
38. Tag
Ich habe zu Gott gebetet, aufrichtig und mit Tränen, er möge mir einen
Zipfel vom Mantel des Glaubens schenken. Ich will geheiligt werden. Das
Wort soll für mich gelten. Das bedeutet für mich, bis zur Wurzel von all
dem Gemeinen, Schmutzigen, Unwürdigen und Wertlosen in meinem Wesen
vorzudringen und es zu bekämpfen. Sünde — mit einem Wort.
42. Tag
Vor sechs Wochen bin ich hierher gekommen. Ich will keine falschen
Tiefsinnigkeiten über diese Zeit sagen. Das Problem für mich ist: was soll
ich eigentlich noch „da draußen?" Will ich auch wirklich wieder von hier
weg? Ich bin nicht verrückt geworden. Ich rühre nur an mein tiefstes
Lebensproblem. Die Wahrheit ist, daß ich mit dem Leben nur sehr locker
verbunden bin.
Es gibt sehr wenig da draußen, was mich ruft, und nichts davon mit
mahnender Stimme. Es ist furchtbar, aber so ist es.
Ich kann mit Hamlet sagen: „Wer trüge Lasten und stöhnt' und schwitzte
unter Lebensmüh? Nur daß die Furcht vor etwas nach dem Tod... den Willen
irrt, daß wir die Übel, die wir haben, lieber ertragen als zu unbekannten
fliehn."
Das ist lange Jahre hindurch mein Glaubensbekenntnis gewesen, ja, im
Grunde genommen immer. Ich kann die vielen Male, da ich vor dem Selbstmord
stand, nicht mehr zählen. Nie habe ich ein Mittel gegen diese Melancholie
in meinem Innern gefunden.
Tantalus beugte sich nieder, um zu trinken — aber seine Lippen blieben
ebenso trocken wie zuvor. Begreift ihr es jetzt, meine Freunde?
108. Tag
Der Übergang vom Beten zum Fluchen war leicht und schmerzlos. Aber die
Reflexionen jetzt, einen Monat später, sind sehr schmerzhaft. Es ist der
sehr komplizierte Schmerz, den Salomo mit den Worten umschreibt:
„Derjenige, der seine Weisheit vermehrt, vermehrt seinen Schmerz."
Montag abend in der Dämmerung
Dies ist ein wirkliches Erlebnis:
An meiner Zellenwand erschien das Bild
von Christi Haupt, dornengekrönt.
In tiefem Frieden lag sein Schmerz gestillt
und kundtat stumm: Gesühnt, versöhnt...
Du, Gott und Mensch, hast sterben wollen
und wolltest deiner Unschuld Schmerz.
Floß denn dein Blut in minder vollem
Schlag als in meinem bangen Herz?
O nein, durch deines Opfers Macht
hast unsre Qual du wollen enden,
und als du sprachst; Es ist vollbracht!
nahmst du uns Sünder bei den Händen.
O Christus, Bruder nenn ich dich,
den Bruder mein in Schmerz und Not.
Den Weg der Gnade führe mich
aus Angst und Sünden und dem Tod!
Literatur: Du hast mich heimgesucht bei Nacht
Abschiedsbriefe und Aufzeichnungen des Widerstandes 1933 -1945
Herausgegeben von Helmut Golwitzer, Käthe Kuhn, Reinhold Schneider