Moltke Helmut James
Graf von
1907 - 1945
Gott braucht zuweilen
Menschen, die dem Tag vorauslaufen, um ihn anzumelden! Aber sie müssen
sterben, bevor der Tag kommt.
P. Lippert
Helmuth James von Moltke wurde am 11. März 1907 zu Kreisau in Schlesien
geboren. Er war der älteste Sohn eines Großneffen des Feldmarschalls und
einer süd-afrikanischen Mutter. Er wurde Jurist und widmete sich außerdem
der Bewirtschaftung seines Gutes Kreisau. Wie kein anderer vertrat er
gegenüber den nationalsozialistischen Herrschern das „andere Deutschland".
Zudem „Kreisauer Kreis", der sich um ihn sammelte, gehörten viele von den
hervorragendsten Vertretern des Widerstands aus allen Lagern. Als Christ
wie auch als Staatsmann mißbilligte Moltke das Attentat. Er wollte das
Wiedererstehen Deutschlands nach der von ihm als unabwendbar
vorausgesehenen Katastrophe vorbereiten. Im Januar 1944 wurde er
verhaftet, weil er einen Freund vor dessen bevorstehender Verhaftung
gewarnt hatte. Im Januar 1945 verurteilte ihn der Volksgerichtshof zum
Tode, und am 23. Januar wurde das Urteil in Plötzensee vollstreckt.
Bischof Lilje, der mit Moltke im Gefängnis zusammentraf, berichtet: „Ohne
die leiseste Selbsttäuschung über sein wahrscheinliches Ende lebte er in
einer heiteren Klarheit der Seele, das leuchtende Beispiel einer
ungebeugten Haltung aus Glauben."
Aus dem Abschiedsbrief an die Söhne
Ich habe mein ganzes Leben lang, schon in der Schule, gegen einen Geist
der Enge und der Gewalt, der Überheblichkeit, der Intoleranz und des
Absoluten, erbarmungslos Konsequenten angekämpft, der in dem Deutschen
steckt, und der seinen Ausdruck in dem nationalsozialistischen Staat
gefunden hat. Ich habe mich auch dafür eingesetzt, daß dieser Geist mit
seinen schlimmen Folgeerscheinungen wie Nationalismus im Exzeß,
Rassenverfolgung, Glaubenslosigkeit, Materialismus überwunden werde.
Aus letzten Briefen an seine Frau
Tegel, den 10. Januar 1945
Mein liebes Herz, zunächst muß ich sagen, daß ganz offenbar die letzten 24
Stunden eines Lebens gar nicht anders sind als irgendwelche anderen. Ich
hatte mir immer eingebildet, man fühle das nur als Schreck, daß man sich
sagt: nun geht die Sonne das letztemal für Dich unter, nun geht die Uhr
nur noch zweimal bis zwölf, nun gehst Du das letzte Mal zu Bett. Von all
dem ist keine Rede. Ob ich wohl ein wenig überkandidelt bin? Denn ich kann
nicht leugnen, daß ich mich in geradezu gehobener Stimmung befinde. Ich
bitte nur den Herrn im Himmel, daß Er mich darin erhalten möge, denn für
das Fleisch ist es sicher leichter, so zu sterben.
Wie gnädig ist der Herr mit mir gewesen! Selbst auf die Gefahr hin, daß
das hysterisch klingt: ich bin so voll Dank, eigentlich ist für nichts
anderes Platz.
Er hat mich die zwei Tage so fest und klar geführt: der ganze Saal hätte
brüllen können wie der Herr Freisler, und sämtliche Wände hätten wackeln
können, und es hätte mir gar nichts gemacht; es war wahrlich so wie es in
Jesaja 43, 2 heißt: Denn so du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein,
daß dich die Ströme nicht sollen ersäufen; und so du ins Feuer gehst,
sollst du nicht brennen, und die Flamme soll dich nicht versengen.
- Nämlich Deine Seele. Mir war, als ich zum Schlußwort aufgerufen wurde,
so zumute, daß ich beinahe gesagt hätte: Ich habe nur eines zu meiner
Verteidigung anzuführen: nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib, laß
fahren dahin, sie haben's kein Gewinn, das Reich muß uns doch bleiben.
Aber das hätte doch die anderen nur belastet; so sagte ich nur: Ich habe
nicht die Absicht etwas zu sagen, Herr Präsident.
Es ist nun noch ein schweres Stück Weges vor mir, und ich kann nur bitten,
daß der Herr mir weiter so gnädig ist, wie er war. Für heute abend hatte
Eugen uns aufgeschrieben Lukas 5, 1—11. Er hatte es anders gemeint; aber
es bleibt wahr, daß dies für mich ein Tag eines großen Fischzuges war, und
daß ich heute abend mit Recht sagen kann: „Herr, gehe von mir hinaus. Ich
bin ein sündiger Mensch." Und was haben wir, meine Liebe, gestern Schönes
gelesen: „Wir haben aber solchen Schatz in irdenen Gefäßen, auf daß die
überschwengliche Kraft sei Gottes und nicht von uns. Wir haben
allenthalben Trübsal, aber wir ängstigen uns nicht. Uns ist bange, aber
wir verzagen nicht. Wir leiden Verfolgung, aber wir werden nicht
verlassen. Wir werden unterdrückt, aber wir kommen nicht um.
Und tragen allezeit das Sterben des Herrn Jesu an unserem Leibe, auf daß
auch das Leben des Herrn Jesu an unserem Leibe offenbar werde."
Dank, mein Herz, vor allem dem Herren, Dank mein Herz, Dir für Deine
Fürbitte, Dank allen nnderen, die für uns und für mich gebeten haben. Dein
Mann, Dein schwacher, feiger, „komplizierter", sehr durchschnittlicher
Mann, der hat das erleben dürfen. Wenn ich jetzt gerettet werden würde —
was ja bei Gott nicht wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher ist als vor
einer Woche —, so muß ich sagen, daß ich erst einmal mich wieder
zurechtfinden müßte, so ungeheuer war die Demonstration von Gottes
Gegenwart und Allmacht.
Er vermag sie eben auch zu demonstrieren, und zwar ganz unmißverständlich
zu demonstrieren, wenn er genau das tut, was einem nicht paßt. Alles
andere ist Quatsch. Darum kann ich nur eines sagen, mein liebes Herz: möge
Gott Dir so gnädig sein wie mir, dann macht selbst der tote Ehemann gar
nichts. Seine Allmacht vermag er eben auch zu demonstrieren, wenn Du
Eierkuchen für die Söhnchen machst oder Puschti beseitigst, obwohl es das
hoffentlich nicht mehr gibt. Ich sollte wohl von Dir Abschied nehmen — ich
vermag' s nicht; ich sollte wohl Deinen Alltag bedauern und betrauern -
ich vermag' s nicht. Ich sollte wohl der Lasten gedenken, die jetzt auf
Dich fallen - ich vermag' s nicht.
Ich kann Dir nur eines sagen: wenn Du das Gefühl absoluter Geborgenheit
erhältst, wenn der Herr es Dir schenkt, was Du ohne diese Zeit und ihren
Abschluß nicht hättest, so hinterlasse ich Dir einen nichtkonfiszierbaren
Schatz demgegenüber selbst mein Leben nicht wiegt. Diese Römer, diese
armseligen Kreaturen von Schulze und Freisler und wie das Pack alles
heißen mag: nicht einmal begreifen würden sie, wie wenig sie nehmen
können! Ich schreibe morgen weiter, aber da man nie weiß, was geschieht,
will ich in dem Brief jedenfalls jedes Thema berührt hahen. Ich weiß
natürlich nicht, ob ich nun morgen hingerichtet werde. Es mag sein, daß
ich noch vernommen, verprügelt oder aufgespeichert werde. Kratze bitte an
den Türen; denn vielleicht hält sie das doch von zu argen Prügeln ab. Wenn
ich auch nach der heutigen Erfahrung weiß, daß Gott auch diese Prügel zu
nichts machen kann, selbst wenn ich keinen heilen Knochen am Leibe
behalte, ehe ich gehenkt werde, wenn ich also im Augenblick keine Angst
davor habe, so möchte ich das lieber vermeiden. So, gute Nacht, sei
getrost und unverzagt.
11. Januar 1945
Meine Liebe, ich habe nur Lust, mich ein wenig mit Dir zu unterhalten. Zu
sagen habe ich eigentlich nichts. Die materiellen Konsequenzen haben wir
eingehend erörtert. Du wirst ich da schon irgendwie durchwinden, und setzt
sich ein anderer nach Kreisau, so wirst Du das auch meistern. Laß Dich nur
von nichts anfechten. Das lohnt sich wahrhaftig nicht. Ich bin unbedingt
dafür, daß Ihr sorgt, daß die Russen meinen Tod erfahren.
Vielleicht ermöglicht Dir das in Kreisau zu bleiben. Das Rumziehen fa dem
Rest - Deutschland ist auf Fälle. Bleibt das Dritte Reich über Erwarten
doch, was ich mir m meinen kühnsten Phantasien nicht vorstellen kann, so
mußt Du sehen, wie Du die Söhnchen dem Gift entziehst. Ich habe natürlich
nichts dagegen, wenn Du dann auch Deutschland verläßt. Tu, was Du für
richtig hältst und meine nicht, Du seiest so oder so durch irgendeinen
Wunsch von mir gebunden. Ich habe Dir immer wieder gesagt: die tote Hand
kann nicht regieren ...
Ich denke mit ungetrübter Freude an Dich und die Söhnchen, an Kreisau und
all die Menschen da; der Abschied fällt mir im Augenblick gar nicht
schwer. Vielleicht kommt das noch. Aber im Augenblick ist es mir keine
Mühe. Mir ist ganz und gar nicht nach Abschied zumute. Woher das kommt,
weiß ich nicht. Aber es ist nicht ein Anflug von dem, was mich nach Deinem
ersten Besuch im Oktober, nein, November war es wohl, so stark überfiel.
Jetzt sagt mein Inneres:
a) Gott kann mich heute genau so dahin zurückführen wie gestern, und
b) und wenn er mich zu sich ruft, so nehme ich es mit.
Ich habe gar nicht das Gefühl, was mich manchmal überkam: ach, nur noch
einmal möchte ich das alles sehen. Dabei fühle ich mich gar nicht
„jenseitig".
Du siehst ja, daß ich mich lieb mit Dir unterhalte statt mich dem lieben
Gott zuzuwenden. In einem Liede — 208, 4 — heißt es: „Denn der ist zum
Sterben fertig, der sich lebend zu Dir hält." Genau so fühle ich mich. Ich
muß, da ich heute lebe, mich eben lebend zu ihm halten; mehr will ich gar
nicht. Ist das pharisäisch? Ich weiß es nicht. Ich glaube aber zu wissen,
daß ich nun in seiner Gnade und Vergebung lebe und nichts von mir habe
oder von mir vermag. Ich schwätze, mein Herz, wie es mir in den Sinn
kommt; darum kommt jetzt etwas ganz anderes. Das Dramatische an der
Verhandlung war letzten Endes folgendes: in der Verhandlung erwiesen sich
alle konkreten Vorwürfe als unhaltbar, und sie wurden auch fallengelassen.
Nichts davon blieb. Sondern das, wovor das Dritte Reich solche Angst hat,
daß es fünf, nachher werden es sieben Leute werden, zu Tode bringen muß,
ist letzten Endes nur folgendes: ein Privatmann, nämlich Dein Mann, von
dem feststeht, daß er mit zwei Geistlichen beider Konfessionen, mit einem
Jesuitenprovinzial und mit einigen Bischöfen, ohne die Absicht, irgend
etwas Konkretes zu tun, und das ist festgestellt, Dinge besprochen hat,
„die zur aus-schließlichen Zuständigkeit des Führers gehören". Besprochen
war: nicht etwa Organisationsfragen, nicht etwa Reichsaufbau — das alles
ist im Laufe der Verhandlung weggefallen, und Schulze hat es in seinem
Plädoyer auch ausdrücklich gesagt („unterscheidet sich völlig von allen
sonstigen Fällen, da in der Erörterung von keiner Gewalt und keiner
Organisation die Rede war"), sondern besprochen wurden Fragen der
praktisch-ethischen Forderungen des Christentums.
Nichts weiter; dafür allein werden wir verurteilt. Freister sagte zu mir
in einer seiner Tiraden: „Nur in einem sind das Christentum und wir
gleich: wir fordern den ganzen Menschen!" Ich weiß nicht, ob die
Umsitzenden das alles mitbekommen haben, denn es war eine Art Dialog — ein
geistiger zwischen F. und mir, denn Worte konnte ich nicht viele machen —,
bei dem wir uns durch und durch erkannten. Von der ganzen Bande hat nur
Freisler mich erkannt, und von der ganzen Bande ist er auch der einzige,
der weiß, weswegen er mich umbringen muß.
Da war nichts von „komplizierter Mensch" oder „komplizierte Gedanken" oder
„Ideologie", sondern: „Das Feigenblatt ist ab." Aber nur für Herrn
Freisler.
Wir haben sozusagen im luftleeren Raum miteinander gesprochen. Er hat bei
mir keinen einzigen Witz auf meine Kosten gemacht, wie noch bei Delp und
bei Eugen. Nein, hier war es blutiger Ernst: „Von wem nehmen Sie Ihre
Befehle? Vom Jenseits oder von Adolf Hitler!" „Wem gilt Ihre Treue und Ihr
Glaube?" Alles rhetorische Fragen natürlich —
... Mein Herz, eben kommt Dein sehr lieber Brief. Der erste Brief, mein
Herz, in dem Du meine Stimmung und meine Lage nicht begriffen hast. Nein,
ich beschäftige mich gar nicht mit dem lieben Gott oder meinem Tod. Er hat
die unaussprechliche Gnade, zu mir zu kommen und sich mit mir zu
beschäftigen. Ist das hoffärtig? Vielleicht. Aber er wird mir noch so
vieles vergeben heute abend, daß ich ihn schließlich um diese letzte
Hoffart auch noch um Vergebung bitten darf. Aber ich hoffe ja, daß es
nicht hoffärtig ist, denn ich rühme ja nicht das irdene Gefäß, nein, ich
rühme den köstlichen Schatz, der sich dieses irdenen Gefäßes, dieser ganz
unwürdigen Behausung bedient hat. Nein, mein Herz, ich lese genau die
Stellen der Bibel, die ich heute auch gelesen hätte, wenn keine
Verhandlung gewesen wäre, nämlich Josua 19—21, Hiob 10—12, Hesekiel 34-36,
Markus 13—15 und unseren zweiten Korintherbrief zu Ende, außerdem die
kleinen Stellen, die ich auf den Zettel für Dich geschrieben habe. Bisher
habe ich nur den Josua und unsere Korintherbriefstellen gelesen, die mit
dem schönen, so vertrauten, von Kind auf gehörten Satz schließt: „Die
Gnade unseres Herrn Jesu Christi und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft
des Heiligen Geistes sei mit Euch Allen. Amen."
Ich habe das Gefühl, mein Herz, als wäre ich autorisiert, Dir und den
Söhnchen das mit absoluter Autorität zu sagen. Darf ich da nicht den 118.
Psalm, der heute morgen dran war, mit vollem Recht lesen? Eugen hat ihn
sich zwar für eine andere Lage gedacht, aber er ist viel wahrer geworden
als wir es je für möglich hielten.
Mein Herz, darum bekommst Du auch Deinen Brief trotz Deiner Bitte zurück.
Ich trage Dich mit hinüber und brauche dafür kein Zeichen, kein Symbol,
nichts. Es ist nicht einmal so, daß mir verheißen wäre, ich würde Dich
nicht verlieren; nein, es ist viel mehr: ich weiß es.. . .
Der entscheidende Satz jener Verhandlung war: „Herr Graf, eines haben das
Christentum und wir Nationalsozialisten gemeinsam, und nur dies eine: wir
verlangen den ganzen Menschen." Ob er sich klar war, was er damit gesagt
hat?
Denk mal, wie wunderbar Gott dies sein unwürdiges Gefäß bereitet hat: in
dem Augenblick, in dem die Gefahr bestand, daß ich in aktive
Putschvorbereitung hineingezogen wurde — Stauffenberg kam am Abend des 19.
zu Peter —, wurde ich rausgenommen, damit ich frei von jedem Zusammenhang
mit der Gewaltanwendung bin und bleibe.
— Dann hat er in mich jenen sozialistischen Zug gepflanzt, der mich als
Großgrundbesitzer von allem Verdacht einer Interessenvertretung befreit. —
Dann hat er mich so gedemütigt, wie ich noch nie gedemütigt worden bin, so
daß ich allen Stolz verlieren muß, so daß ich meine Sündhaftigkeit endlich
nach 38 Jahren verstehe, so daß ich um seine Vergebung bitten, mich seiner
Gnade anvertrauen lerne.
— Dann läßt er mich hierhin kommen, damit ich Dich gefestigt sehe und frei
von Gedanken an Dich und die Söhnchen werde, d. h. von sorgenden Gedanken;
er gibt mir die Zeit und Gelegenheit, alles zu ordnen, was geordnet werden
kann, so daß alle irdischen Gedanken abfallen, können. - Dann läßt er mich
in unerhörter Tiefe den Abschiedsschmerz und die Todesfurcht und die
Höllenangst erleben, damit auch das vorüber ist.
— Dann stattet er mich mit Glaube, Hoffnung und Liebe aus, mit einem
Reichtum an diesen Dingen, der wahrlich überschwenglich ist. — Dann läßt
er mich mit Eugen und Delp sprechen und klären. — Dann läßt er Rösch*) und
König entlaufen, so daß es zu einem Jesuitenprozeß nicht reicht und im
letzten Augenblick Delp an uns angehängt wird.
- Dann läßt er Haubach und Steltzer, deren Fälle fremde Materie
hereingebracht hätten, abtrennen und stellt schließlich praktisch Eugen,
Delp und mich allein zusammen und dann gibt er Eugen und Delp durch die
Hoffnung, die menschliche Hoffnung, die sie haben, jene Schwäche, die dazu
führt, daß ihre Fälle nur sekundär sind, und daß dadurch das
Konfessionelle weggenommen wird, und dann wird Dein Mann ausersehen, als
Protestant vor allem wegen seiner Freundschaft mit Katholiken attackiert
und verurteilt zu werden, und dadurch steht er vor Freisler nicht als
Protestant, nicht als Großgrundbesitzer, nicht als Adliger, nicht als
Preuße, nicht als Deutscher - das alles ist ausdrücklich in der
Hauptverhandlung ausgeschlossen, so z. B. Sperr: „Ich dachte, was für ein
erstaunlicher Preuße" —, sondern als Christ und als gar nichts anderes.
„Das Feigenblatt ist ab", sagt Herr Freisler.
Ja, jede Kategorie ist abgestrichen — „ein Mann, der von seinen
Standesgenossen natürlich abgelehnt werden muß", sagt Schulze. Zu welch
einer gewaltigen Aufgabe ist Dein Mann ausersehen gewesen: all die viele
Arbeit, die der Herrgott mit ihm gehabt hat, die unendlichen Umwege, die
verschrobenen Zickzackkurven, die finden plötzlich in einer Stunde am 10.
Januar 1945 ihre Erklärung.
Alles bekommt nachträglich einen Sinn, der verborgen war. Mami und Papi,
die Geschwister, die Söhnchen, Kreisau und seine Nöte, die Arbeitslager
und das Nichtflaggen und nicht der Partei oder ihren Gliederungen
angehören, Curtis und die englischen Reisen, Adam und Peter und Carlo, das
alles ist endlich verständlich geworden durch eine einzige Stunde.
________________________
*) Moltke, der in Plötzensee war, wußte bei der Abfassung dieses Briefes
nicht, daß Pater Rösch verhaftet war und sich im Gefängnis in Moabit
befand.
Für diese eine Stunde hat der Herr sich all diese Mühe gegeben.Und nun,
mein Herz, komme ich zu Dir. Ich habe Dich nirgends aufgezählt, weil Du,
mein Herz, an einer ganz anderen Stelle stehst als alle die anderen. Du
bist nämlich nicht ein Mittel Gottes, um mich zu dem zu machen, der ich
bin, Du bist vielmehr ich selbst. Du bist mein 13. Kapitel des ersten
Korintherbriefes.
Ohne dieses Kapitel ist kein Mensch ein Mensch. Ohne Dich hätte ich mir
Liebe schenken lassen, ich habe sie z. B. von Mami angenommen, dankbar,
glücklich, dankbar wie man ist für die Sonne, die einen wärmt. Aber ohne
Dich, mein Herz, halle ich „der Liebe nicht". Ich sage gar nicht, daß ich
Dich liebe; das ist gar nicht richtig. Du bist vielmehr jener Teil von
mir, der mir alleine eben fehlen würde. Es ist gut, daß mir das fehlt;
denn hätte ich das, so wie Du es hast, diese größte aller Gaben, so hätte
ich dem Leiden, das ich ja sehen mußte, nicht so zuschauen können und
vieles andere. Nur wir zusammen sind ein Mensch. Wir sind, was ich vor
einigen Tagen symbolisch schrieb, ein Schöpfungsgedanke.
Das ist wahr, buchstäblich wahr.
Darum, mein Herz, bin ich auch gewiß, daß Du mich auf dieser Erde nicht
verlieren wirst, keinen Augenblick. Und diese Tatsache, die haben wir
schließlich auch noch durch unser gemeinsames Abendmahl, das nun mein
letztes war, symbolisieren dürfen. Ich habe ein wenig geweint, eben, nicht
traurig, nicht wehmütig, nicht weil ich zurück möchte, nein, sondern vor
Dankbarkeit und Erschütterung über diese Dokumentation Gottes.
Uns ist es nicht gegeben, ihn von Angesicht zu Angesicht zu sehen, aber
wir müssen sehr erschüttert sein, wenn wir plötzlich erkennen, daß er ein
ganzes Leben hindurch am Tage als Wolke und bei Nacht als Feuersäule vor
uns hergezogen ist, und daß er uns erlaubt, das plötzlich in einem
Augenblick zu sehen. Nun kann nichts mehr geschehen.
. . Mein Herz, mein Leben ist vollendet, und ich kann von mir sagen: er
starb alt und lebenssatt. Das ändert nichts daran, daß ich gerne noch
etwas leben möchte, daß ich Dich gerne noch ein Stück auf dieser Erde
begleitete. Aber dann bedürfte es eines neuen Auftrages Gottes.
Der Auftrag, für den Gott mich gemacht hat, ist erfüllt. Will er mir noch
einen neuen Auftrag geben, so werden wir es erfahren. Darum strenge Dich
ruhig an, mein Leben zu retten, falls ich den heutigen Tag überleben
sollte. Vielleicht gibt es noch einen Auftrag. Ich höre auf, denn es ist
nichts weiter zu sagen. Ich habe auch niemanden genannt, den Du grüßen und
umarmen sollst.
Du weißt selbst, wem meine Aufträge für Dich gelten. Alle unsere lieben
Sprüche sind in meinem Herzen und in Deinem Herzen. Ich aber sage Dir zum
Schluß, kraft des Schatzes, der aus mir gesprochen hat, und der dieses
bescheidene irdene Gefäß erfüllt:
Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi und die Liebe Gottes und die
Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit Euch allen.
Amen.
Literatur: Du hast
mich heimgesucht bei Nacht
Abschiedsbriefe und Aufzeichnungen des Widerstandes 1933 -1945
Herausgegeben von Helmut Golwitzer, Käthe Kuhn, Reinhold Schneider