Friedrich Reck,
geboren am 11. August 1884 auf dem Dominium Malleczewen in Ostpreußen,
wirkte als Schriftsteller in seiner bayerischen Wahlheimat. Durch seine
Gegnerschaft zum nationalsozialistischen Regime wurde er zum politischen
Kämpfer. Er wagte es, in seinen Büchern, vor allem in seinem „Jan
Bockelson", in verschlüsselter Form den Fanatismus des „Führers" und
seiner Bewegung anzuprangern. Seine Aufzeichnungen aus der Kampfzeit
wurden 1947 unter dem Titel „Tagebuch eines Verzweifelten" (Bürger-Verlag
Lorch-Stuttgart) veröffentlicht. Schließlich erfüllte sich, was er in
seinem Brief an Dr. Max Stefl vom 5. Juni 1935 vorausgesagt hatte. Er
wurde von der Gestapo verhaftet und starb im Februar 1945 im
Konzentrationslager Dachau. In einem kurz vor seinem Tod an seine Frau
gerichteten Brief schrieb er: „. . . Mein Andenken ehret Ihr, wenn Ihr
Böses mit Gutem, ja, mit tätiger Hilfe vergeltet."
Poing, Post Truchtlaching, 5. Juni 1935
... Es übersteigt zwar fast menschliche Kräfte, sehn zu müssen, daß an
sich wertvolle Menschen in der zeitüblichen Weise moralisch verfallen —
ich nehme mein Los, was ich Ihnen ohne jede Frömmelei zu sagen wünsche,
durchaus als ein Teillos und ein Teilmartyrium, das heute ja alles
belastet und beschwert, was geistig sich entscheidet. Sehe ich, wie dieser
seelische Verfall gerade unter hochwertigen Menschen wütet, sehe ich diese
Fülle von Büberei, Verrat, Ruchlosigkeit: dann, mein lieber Doktor Stefl,
sehe ich jenes von mir lange geahnte Gesetz sich vollziehen, von dem das
letzte Kapitel meiner „Renaissance" spricht: jenes Gesetz, nach dem der
(für mich unausbleibliche) Sieg der geistigen Eliten über den
Massenmenschen erkauft wird durch den Abstieg in die Katakombe, dem
Martyrium und den physischen Untergang. „Für unser leibliches Ergehen
haben wir nichts, für den Sinn unserer Todesstunde haben wir alles zu
erhoffen." Den Satz schrieb ich dummer junge vor Jahren nieder, wußte
nicht, was ich schrieb. Heute gilt's, alle großen Worte, die einem mal aus
dem Munde gingen, zu bestätigen.
Glauben Sie ja nicht an eine „ecclesia triumphans" in dem so oft gehörten,
billig-optimistischen Sinne. Mich hat, während ich dieses Renaissance-Werk
schrieb (das Schönborn gewidmet ist und das er, der Renaissance-Mensch,
wahrscheinlich nicht goutieren wird) . . . mich hat die Vision dieser
furchtbaren Zeitkrise befallen und ich sehe mit Augen, die leider immer
sehender und beinahe ungebührlich hellsichtig werden, unser Schicksal in
aller Deutlichkeit voraus.
Die Entgottung der Renaissance zeugt den „sachlichen Menschen" der letzten
vierhundert Jahre, der sachliche Mensch zeugte zuerst den kapitalistischen
Großbürger und dann den Bourgeois, der Bourgeois aber den Massenmenschen,
der sich heute, wo die Pionierzeiten des Erdballes beendigt sind, in
seinen Existenzgrundlagen bedroht sieht und um sich zu schlagen beginnt.
Sie kennen mich nun genug und wissen, daß ich nicht so traurig und steril
bin, um nun etwa diesen Massen (die weder gut noch böse, sondern im Grunde
überhaupt nichts sind) den Triumph vorauszusagen oh , ganz das Gegenteil
(und mein eigenes Schicksal ist nur ein winziges Teillos von dem, was
heute allenthalben in unseren Reihen wiederkehrt).
Da aber, wo die Elite diese Avantgarden-Stellung auch nur bezieht: dort
ist eigentlich schon ihr Sieg da. Die Massen, als echte Produkte der
Renaissance, werden verschwinden — wir wollen die Technik jenes
gigantischen historischen Bebens, das sie abschütteln wird, getrost der
obersten Befehlsstelle überlassen. Wir werden bei diesem Prozeß leiblich
zugrunde gehn und in unseren Ideen allein siegreich bleiben. Wir, an der
Lötfuge zweier Zeiten stehend, haben den historischen Auftrug, zu leiden
und leidend und glaubend zu fallen. In dieser Erkenntnis ist bereits die
Unbesiegbarkeit enthalten.
Es komme mir aber Niemand daher und sage mir, daß das, was diesem armen
Erdball so fehlt — der "neue und gewisse Geist", die große Zentralidee,
schon da wäre oder, soweit es vorhanden ist, noch stark genug wäre, um
ohne dieses Martyrium neue Geschlechter zu bewegen. Das Christentum, ja,
die gesamte steril gewordene Geistigkeit Europas, bedarf dieser neuen
Blutzeugenschaft und dieser Schreie aus dem Acheron. Ich bin kein
Chiliastiker und kein Adventist — ich mache Halt mit meinen Gedanken an
der Stelle, wo ich klar, aus sämtlichen Disziplinen des heutigen
Menschengeistes, die Erkenntnis ziehe: daß die Probleme des heutigen
Erdensohnes ohne den Eingriff der höheren Hand überhaupt nicht zu lösen
sind. Was an dieser Stelle einsetzt, wissen Sie.
Erfüllung wird nämlich nach meines müden Herzens Überzeugung jedem großen
Menschenwunsch, wofern der Wünschende nur diesen Eine fühlt: „Ich will
lieber tausend bittere Tode sterben, ehe ich dies nicht erfüllt sehn mag."
Der eigentliche Beweger der Geschichte ist in meiner Brust die Idee, und
der also gehegte heiße Wunsch beinahe schon des Wunsches Erfüllung. Das
klänge anmaßend, wenn nicht diese schon ausgesprochene Erkenntnis
dazuträte: daß wer diese Vision erst einmal gehabt hat, von seinem
physischen Leben innerlich Abschied genommen haben muß . . .
Ihnen sage ich freimütig, daß ich mich, greift nicht ein Wunder ein, am
Ende meiner Tage fühle und von Gott das erhoffe, was er mir eigentlich
schuldig ist: eine Todesstunde, die alle großen einmal ausgesprochenen
Worte einlöst und der armen, von der Zeit hin und her gerissenen Kreatur
endlich sagt, wer sie gewesen ist und jenen Frieden schickt, der jedem
winkt, der sich, physisch oder seelisch, verblutet hat. Sie müssen nicht
denken, daß ich das Atomgewicht meines Lebens im Aspekt dieser
gigantischen Zeitwende überschätze — ich werte es als Material und als den
Fall des ersten besten Soldaten aus dem „Verlorenen Haufen", der heute für
den Geist ficht.
Das ist alles, teuerster Doktor... Leben Sie wohl und bleiben Sie tapfer.
Diesmal liegt in der Tapferkeit allein schon der Sieg. Sie haben in der
Stille gearbeitet und haben nicht die Verpflichtungen wie ich. Ich habe,
mitten auf der Agora, große Worte gesprochen. Und muß sie einlösen. Das
ist die Aufgabe, die auf meinen etwas unzulänglichen Schultern drückt.
Aufzeichnung vom April 1944, nach einem schweren Luftangriff auf München
Auf den ersten Blick, wenn der Zug in diese rührende romanische Glashalle
hineingeleitet, scheint alles beim alten zu sein — genau wie in jenen
fernen Tagen, wenn ich hier dich erwartete, wenn aus der großen
versunkenen Welt die großen eleganten Trains hier einliefen . . .
Auf den ersten Blick also wäre alles in Ordnung. Auf den zweiten, wenn man
die Schalterhalle passiert hat, sieht man in eine grausame und
ungeheuerliche Veränderung hinein, die zunächst dem Ankommenden die
Orientierung nimmt. Ein riesiges Brotmesser hat von oben nach unten die
ganze Fassade fortgesäbelt, und da jenseits des Platzes nur noch ein
riesiges Trümmerfeld sich dehnt, sieht man tief hinein in die Eingeweide
eines Stadtkadavers. Fast bis zum Marienplatz.
Hinweg über pulverisierten Mörtel, hindurch zwischen Staubwirbeln, die der
kalte Frühlingswind als Schemen der toten Vergangenheit über die Wüstenei
tanzen läßt. Dies also wäre München. Dies der Platz mit dem rauschenden
Brunnen und den vertrauten Kastanien, deren Blütenkerzen einst so blutrot
glühten im Frühlingslicht. Keine Bank mehr, keine Kastanien, kein
Brunnenrauschen. Wirrsal von gefälltem Baumgeäste, verrostete
Drahtspiralen, geborstene Kabel, geschmolzene Asphaltbrocken. Verdorbener
Hausrat, abgeblätterte Affichen, eine geborstene Litfaßläule. „Odeon,
Generalprobe der Matthäuspassion." „Residenztheater, Cosi fan tutte."
Vergangenheit, verschlungen von einem sagenhaften Ungeheuer, wieder
ausgespien vor unsere Füße. Vergangenheit.
Die Gegenwart heißt totaler Krieg.
Exekutiert von dem, den sie nun den größten Feldherrn aller Zeiten nennen.
Und nun wären wir wohl so weit. April 1944. München, das sie einmal die
Stadt der Jugend und der Freude genannt haben. Weißt du noch um das kleine
Rokokotheater, das an seinem Pult noch den Salzburger Wunderknaben
gesehen, hörst du noch den silbernen Flügelschlag jenes Spinetts, darauf
seine Hände geruht.
Weißt du noch, wenn aus diesem zerschlagenen Schloß der königliche
Patriarch dieser Stadt, Herzog über ein bukolisches Volk, auszog, mit
Bauern Erntefest zu halten und nach der Scheibe zu schießen . . . weißt du
noch um den Blick vom Monopteros, wenn herb und rein die Silhouette der
Stadt vor uns stand . . . Stehe stille und verhülle dein Haupt.
Liebe mütterliche Stadt, geliebte und wahrhaft schuldlose Stadt, auf
deinem Grabe noch will ich dir danken, auf deinen schwelenden Trümmern,
Mutter, Abschied nehmen vom Gestern und die ewig zeugende und gebärende
Erde anflehen um die Gnade neuen Lebens.
Könnte mir ein süßerer Trost, ein glanzvolleres Lebensende werden, als ein
frommer und getreuer Dienst am Bette deiner Auferstehung? Vor dem lohenden
Himmel des deutschen Städtebrandes regt als riesiger Schatten sich die
Frage nach der Schuld.
Du armes krankes Volk, du bist im Begriff, zum zweiten Male dich
hinwegzulügen über die Stunde der Selbsteinkehr und vergißt, daß
Selbsteinkehr den letzten Schlüssel deiner Zukunft bedeutet.
Literatur: Du hast
mich heimgesucht bei Nacht
Abschiedsbriefe und Aufzeichnungen des Widerstandes 1933 -1945
Herausgegeben von Helmut Golwitzer, Käthe Kuhn, Reinhold Schneider