16. Oktober 1944
Meine liebe Renate,
Es scheint mir gestern gewesen zu sein, daß wir Dich »Knöppchen« riefen;
so drängt sich alles in der Rückschau zusammen.
Jetzt nennen wir Dich »unsere Große«, so hast Du Dich gereckt und zu
einem gestrafften Mädchen entwickelt, das weiß, was es will, und gerade
seinen Weg geht.
Was hast Du aber auch für ein Vorbild an Deiner Mutter!
Ohne daß Du es gemerkt hast, hat sie Dich in Deinen Kleinmädchenjahren
schon mitgeformt eben durch ihr tägliches
Vorbild und ihre Haltung.
Folge ihr weiter so, mein liebes Kind, und es kann nur zu Deinem Guten
sein.
Jetzt bist Du bei den guten Großeltern in Göttingen und ich höre, Ihr
liebt Euch gegenseitig.
Wie tröstlich ist es für mich, das gerade jetzt zu hören.
Es wird Dir guttun, jetzt ein regelmäßiges Schul - und Lernleben zu
haben; es gehört zu den wichtigsten Dingen im Leben, daß man sich
regelmäßig entwickeln kann. Versäumtes ist nie nachzuholen, weil das
Leben immer neue Anforderungen stellt.
Du weißt, wie ich mich immer über Dein Geigenspiel gefreut habe und nie
vergaß, danach zu fragen.
Denke daran in Göttingen und pflege es eifrig. Auch hier gilt wie bei
allem Lernen, daß keine Lücken entstehen dürfen. Und tröstlich ist das
Sprichwort »Aller Anfang ist schwer«.
Also gilt es, den Anfang möglichst tatkräftig und rasch zu überwinden,
damit man frei spielen lernt und zum Genuß der alle Menschen erfreuenden
Musik kommt.
Es ist mit allen Aufgaben wie mit dem Schwimmen. Man soll sehen, sich
möglichst bald frei zu schwimmen, um sich ganz der Freude des freien
Schwimmens, des Tummeins hinzugeben.
Tüchtig und fleißig sein in der Schule wird Dir auch das Schulleben zur
Freude machen; und froh sein willst Du doch und sollst Du doch auch alle
Tage.
Daß dabei Gymnastik und Sport nicht zu kurz kommen, dafür wird Mutter
schon sorgen. In Göttingen wirst Du auch im Winter Dich manchmal auf die
Bretter stellen können.
Das gibt Dir dann Übung und Festigkeit und Vertrauen in Dein Können.
Und wo dieses Vertrauen ist, entwickelt sich auch das Können, und man
gewinnt Freude an seiner Kunst.
Wenn Du auch jetzt für ein Weilchen ohne Mutter und Geschwister sein
mußt, schließe Dich um so mehr Großvater und Großmutter an die Dich kaum
kannten seither, betreue Christinchen und finde eine Freundin, die Dir
ein guter, anständiger Kamerad ist. Vergiß auch nicht, gelegentlich an
den einsamen Großvater in Hessen zu schreiben, der sich über jeden Gruß
von seinen Enkelkindern herzlich freut. Göttingen ist eine hübsche,
gepflegte, stille Gelehrtenstadt.
Lerne sie gut kennen und schließe Dich Befreundeten Familien an, um Dir
auch ihre schöne Umgebung, das waldreiche Bergland zu erwandern, so wie
es Dein Vater als Junge in Hessen mit soviel Freude getan hat.
Wisse überhaupt, daß Wandern eine unerschöpfliche Quelle der
Lebensfreude ist.
Erwandere Dir in jungen Jahren Deutschland, wie ich es getan habe.
Man kann gar nicht früh genug damit anfangen; aber man soll immer sehen,
daß man ältere, in allen Dingen erfahrene Kameraden bei sich hat, die
einen beschützen und führen.
Sei auch Du hilfsbereit, wo immer Du Gelegenheit hast.
Denen, die es brauchen, zu helfen und zu geben, gehört zu den
wichtigsten Aufgaben im Leben.
Je stärker man ist, je mehr Freude man hat, je mehr man gelernt, um so
mehr kann man helfen.
Ich küsse Dich auf Deinem Weg — Dein Vater
Literatur: Du hast mich heimgesucht bei Nacht
Abschiedsbriefe und Aufzeichnungen des Widerstandes 1933 -1945
Herausgegeben von Helmut Golwitzer, Käthe Kuhn, Reinhold Schneider