ROSE SCHLÖSINGER
1907 - 1943
Geboren 1907, am 18. September 1942 wegen Zugehörigkeit zu einer
Widerstandsgruppe verhaftet, hingerichtet am 5. August 1943. Ihr Mann,
Bodo Schlösinger, Dolmetscher bei der deutschen Feldpolizei, hat sich in
einem russischen Bauernhaus erschossen, als er hörte, daß seine Frau zum
Tode verurteilt worden war.
Brief an ihr Töchterchen Meine liebe kleine große Marianne!
Ich weiß nicht, wann Du diesen Brief lesen wirst. Ich überlasse es Oma
oder Vati, ihn Dir zu geben, wenn Du groß genug dafür bist.
Jetzt muß ich Abschied nehmen, weil wir uns wahrscheinlich nie mehr
sehen.
Du sollst trotzdem ein gesunder, froher und starker Mensch werden.
Ich wünsche Dir, daß Du in der Welt so wie ich das Schönste erlebst,
ohne daß Du das Schwere durchmachen mußt wie ich.
Du sollst zuerst danach streben, tüchtig und fleißig zu werden, dann
wird alles andere Glück von selbst kommen. Lebe nicht zu
verschwenderisch mit Deinen Gefühlen.
Es gibt nicht viele Männer, die so sind wie Vati, so gut und rein in
ihrer Liebe. Lerne warten, ehe Du Deine ganze Liebe verschenkst — es
bleibt Dir dann das Gefühl des Betrogenseins erspart. Aber einen Mann,
der Dich so liebt, daß er auch alle Not und jede Schwierigkeit mit Dir
teilen wird und für den Du dasselbe tun kannst, den kannst Du lieben
-und glaube mir, dann wirst Du durch das Glück mit ihm für das Warten
belohnt.
- Ich wünsche Dir so viele, viele Jahre des Glücks, wie ich es leider
nur ein paar Jahre haben konnte.
Und dann sollst Du Kinder haben - wenn man Dir Dein erstes Kind in den
Arm legt, vielleicht denkst Du dann an mich, daß es auch ein Höhepunkt
meines Lebens war, als ich Dich kleines rotes Bündel zum erstenmal hielt
und dann denk an die Abende, als wir uns im Bett unterhielten über die
vielen wichtigen Dinge des Lebens - ich versuchte Deine Fragen zu
beantworten - und denk an die schönen drei Wochen an der See - an den
Sonnenaufgang, und als wir am Strand entlang barfuß von Bansin nach
Ückeritz liefen, und als ich Dich auf dem Schlauch vor mir her trieb,
und als wir zusammen Bücher lasen — so viel Schönes hatten wir zusammen,
mein Kind, das sollst Du alles auch noch einmal erleben und noch viel
mehr.
Und noch eins will ich Dir verraten. Wenn man sterben muß, tut einem
jedes böse Wort leid, das man einem lieben Menschen gegeben hat; wenn
man weiterleben dürfte, würde man sich das merken und sich viel besser
beherrschen.
Vielleicht kannst Du Dir das merken - Du machst Dir und anderen das
Leben und später auch das Sterben leichter. Und sei froh, so oft Du
kannst - jeder Tag ist kostbar, es ist schade um jede Minute, die man
traurig zugebracht hat.
Meine Liebe zu Dir soll Dich Dein ganzes Leben lang begleiten. - Ich
küsse Dich - und alle die lieb zu Dir sind. Leb wohl, mein Liebes - bis
zuletzt denkt mit größter Liebe an Dich
Deine Mama
Literatur: Du hast mich heimgesucht bei Nacht
Abschiedsbriefe und Aufzeichnungen des Widerstandes 1933 -1945
Herausgegeben von Helmut Golwitzer, Käthe Kuhn, Reinhold Schneider