ALFRED SCHMIDT - SAS
1895 - 1943
Am Ende des Lebens gehen dem gefaßten Geiste Gedanken auf, bisher
undenkbare;
sie sind wie selige Dämonen, die sich auf den Gipfeln der Vergangenheit
glänzend niederlassen.
Goethe
Alfred Sdimidt-Sas, geboren am 26. März 1895 in Schlegel bei Zittau in
der Lausitz, Lehrer und Musiker, widmete sich als Erzieher und Agitator
dem Kampf gegen die nationalsozialistische Bewegung. Mehrfach erlitt er
Haft im Konzentrationslager. Am 9. Oktober 1942 wurde er vom
Volksgericht zum Tode verurteilt und am 9. April 1943 in Plötzensee
hingerichtet.
Ob einer mit hölzernen oder goldenen Figuren ficht,
Das entscheidet beim Schachspiel und auch im Leben nicht.
Wie einer spielt, wofür einer spielt, darauf kommt es an.
Das zeigt den Mann.
Ob dich nach der Sektion eiligst ein Diener wegträgt,
Oder ein Staatsbegräbnis dich zum Prachtgrab bewegt,
Wie einer stirbt, wofür einer stirbt, darauf kommt es an, Das zeigt den
Mann.
Oktober 1942 in der Todeszelle geschrieben
Aus Plötzensee.
Dies schreibe ich am Montag, den 8. März (1943). Auch die schrecklichen
Minuten gegen 13 Uhr, wenn man die Abendopfer aus den Zellen holt und
das Haus den Atem anhält, auch diese Minuten sind für heute vorüber, und
der Tag kann als gewonnen gebucht werden ...
21. März 1943
Morgen ist wieder ein kritischer Tag erster Ordnung, und niemand weiß,
ob ich in vierundzwanzig Stunden noch in dieser Zelle und in dreißig
noch am Leben bin. Aber dem Tode ist alle Bitterkeit genommen — nicht
die Traurigkeit natürlich, aber ist sie nicht beinahe süß? Gerade jetzt
empfinde ich dies ganz stark, wo ich eben aus einer tiefen, namenlosen
Vereinigung mit Dir mich wieder zu Worten und Begriffen zurückfinde.
Woher mag es stammen, was unsere Seele mit Zaubergewalt anrührt und
zusammenführt?
Warum springt dieser Brunnen nicht immer? ... Ich saß auf meinem harten
Stuhl in der Zelle wie die hundert und hundert Stunden vordem und
steckte doch ganz und ungeteilt in allem: in Natur, Mensch und Kunst.
Die Unterschiede zwischen Tod und Leben verschwanden über der Freude:
zu sein...
28. März 1943
Mittags halb ein Uhr. Vier Märtyrer wurden eben aus den Zellen geholt...
So werde ich zwei - bis dreimal in der Woche nahe an den Abgrund
geführt, und während ich mich zwinge ruhig hinabzuschauen, warte ich auf
den kleinen Stoß, der genügt, mich hinabzustürzen ...
4. April 1943
Ich nähere mich wieder einer Dämmerung ... es ist die Dämmerung, die den
Morgen und den neuen Tag verkündet. Diesen vermag ich mir nicht anders
vorzustellen als mit Dir, an Dir, in Dir ... Es ist fünf Stunden später;
eben bin ich nach sieben verlegt worden, d. h. heute abend, in weiteren
fünf Stunden werde ich hingerichtet.
Ein großer Friede erfüllt mich und eine große Leichtigkeit.
Alles Schwere ist abgetan! Und niemals hatte ich Deine und der anderen
Liebe so rein, so innig und unbefleckt. Ich bin auf unerklärliche Art
glücklich.
Behaltet mich so im Gedächtnis ...
Letzter Brief
Am hohen blaßblauen Frühlingshimmel stand eine kleine weiße Wolke.
Einige Atemzüge später hatte sie sich im All aufgelöst. War sie deshalb
weniger da als vorher? Nichts kann vergehen was einmal war. Es bleibt im
Weltgesicht! Ein tiefer, lösender Friede umfängt mich. In mir blüht eine
staunende Ergriffenheit auf und erfüllt mich ganz: das Wesentliche im
Leben und im Menschen wird durch den Tod nicht betroffen. Und so bleibe
ich ganz bei Dir und Du bei mir. Ich sterbe mit einer Beschwingtheit,
die nicht einmal Tränen duldet, denke doch, nicht einmal Tränen.
In unsagbarer Reinheit stehe ich der Welt gegenüber, stehe mitten in
ihr, und diese letzten Stunden sind in Wahrheit die Höhe des Lebens die
Höhe des Lebens. Was ich nun noch zu schreiben habe, ist nur zweierlei:
Worte des Dankes und Worte meiner nie endenden Liebe zu Dir.
Meine unvollkommenen Gedichtzeilen sind ein schwacher Abglanz von dem,
was Du mir erst gegeben hast. In dem Maße, wie mir Deine Liebe steigend
bewußt wurde (und wie sie sich steigerte bis zur Hingabe des eigenen
Lebens), in dem Maße wie ich Dich lieben, immer inniger lieben lernte;
im gleichen Maße wurde ich vollkommen, verbreitete sich der lichte
Schein der Güte, entwirrte sich die Welt, wuchsen Kraft und Glück in
mir, und allen Menschen wurde ich gut, unsere Erde liebte ich neu; das,
Liebste, schufst Du!
Und eine gnadenvolle Fügung war Dein letzter Besuch, unsere letzte
sinnlich-sichtbare Vereinigung; wenn wir die Zukunft gewußt hätten,
wären wir wohl nicht stark genug gewesen. So sehe ich Dich bei mir als
Bild glückseligster Hoffnung, und ich sterbe, als ob ich im Kuß an
Deinen Lippen hinge.
Von meiner Liebe kann ich Dir nicht sprechen, sie ist so stark geworden,
daß sie alle Sprachformen auseinandersprengt. Meine Bitte: Verschließ
Dich nicht der Schönheit dieser Welt, gib Dich dem Leben hin, bringe
durch Dein Wesen, Deine Kunst, durch Deine Stimme Freude, Glück, Güte
und Friede. Wie gern wollte ich Dir dabei helfen! Laß alle wissen, die
mit an mir gebaut haben, daß die letzten Stunden und der Tod die Krönung
meines Lebens sind, daß ich bleibe ganz der Deine!
O seltsam lichtes Leben dicht am Tod
Fast neun Schritte lang
ist meine letzte weißgetünchte Welt
vielleicht neun Tage noch,
dann fällt mein Kopf,
der jetzt noch denkt und spricht und sieht und hört
So nahe wartet schon der große Schlaf
mit seiner dunklen Schwinge überschattend
die grelle Glut von Wünschen oder Ängsten.
Er sänftiget die längsten, allerbängsten,
die Augenblicke bitt'rer Menschennot.
O seltsam lichtes Leben dicht am Tod.
(Mit gefesselten Händen geschrieben)
Literatur: Du hast mich heimgesucht bei Nacht
Abschiedsbriefe und Aufzeichnungen des Widerstandes 1933 -1945
Herausgegeben von Helmut Golwitzer, Käthe Kuhn, Reinhold Schneider