Libertas
Schulze-Boysen
1913 - 1942
Du kamst, du gingst mit leiser Spur, / Ein flücht'ger Gast im Erdenland.
/ Woher? Wohin? Wir wissen nur: / Aus Gottes Hand in Gottes Hand. Ludwig
Uhland
Erster Brief nach + der Verhaftung
21. Oktober 104
Meine geliebte Mutti!
Vor allem anderen: Hab' Dank und nochmals Dank für Deine starke Kraft der
Gedanken und des Mitempfindens! Ich war in den ersten schweren Tagen
geradezu wie getragen davon.
Deine Liebe, Deine ständige Nähe sind etwas so Großes für mich, daß ich
nur innerlich hoffe, es Dir noch einmal im Leben lohnen zu können. Bitte,
laß keinen Augenblick nach damit, Die Zeit macht die Dinge nicht leichter,
sondern eher schwerer, weil man sie mehr und mehr begreift. Das Vertrauen
nie allein zu sein, hilft so unendlich viel! Ein Trost sei Dir, daß ich
diese Zeit schon jetzt als etwas Notwendiges und damit Positives werte,
das mich ganz zu mir selbst führt und zu einem läuternden, stärkenden
Gottempfinden.
Und des Schmerzes versuche ich Herr zu werden, indem ich ihn bejahe, mich
um kein Schuldgefühl drücke und langsam von dem stärkenden Vertrauen
erfüllt werde, das die kleine Lebensangst und die große Freiheitssehnsucht
verdrängt: Wie es kommt, ist es am besten für mich.
Ich bin bereit es zu ertragen! - „Ich habe den Willen..." Und noch ein
Trost: Alle sind gut zu mir, mit denen ich zusammenkomme.
Du kannst Dir denken, wieviel das wert ist! — Übrigens habe ich auch das
Dichten wieder begonnen — langsam schält sich der alte Kern heraus — das
wird Dich froh machen! Wieviel gäbe es noch zu schreiben, aber Gottlob
verstehen wir uns auch ohne Worte. Hab nochmals Dank für Deine Liebe, Dein
Vertrauen, Deine Kraft. Grüße alle, die an mich denken und danke ihnen in
meinem Namen dafür.
In unsagbarer Liebe immer
Dein Kind
30. November 1942
Du meine Mutti!
30. November 1942
Es ist wirklich schwer Briefe zu schreiben, weil die „Gedankenpost" so gut
funktioniert. Wenn man zudem bedenkt, wieviel hundertmal der andere diese
Zeilen lesen wird, so ist es umso schwerere, Großes und über den Tag
hinaus Gültiges zu sagen. Darum sage ich, wie Du so oft: „Hab Geduld,
verlange nicht zu viel."
Nochmals Dank für Deine herrliche Ruhe bei unserem Wiedersehen.
Bitte erhalte sie Dir, um unser aller Willen! Die Nachwirkung dieses
Wiedersehens ist so schön, so schwer es mir mich zunächst war.... Diese
unser aller Verbundenheit ist wirklich ein so großes Geschenk, das ich nie
aufhöre dankbar glücklich zu empfinden. Und über alles hält Gott seine
große warme Hand ..... So sind diese Tage alle jetzt: Schwer und groß und
voller Klärung, Reifen und Glauben. Ich bin dankbar für jeden Tag, da mir
Zeit und Ruhe zu diesem Kämpfen und Wachsen bleibt.
Und der Schmerz, der lebendige, macht wirklich langsam das nun mir, was
ich als Kind zu sein wünschte: „Eine Dichterin". Ich bin meiner Kindheit
überhaupt so nahe. Weißt Du noch, wie ich vor langen Jahren zur Weihnacht
in der Halle auf dem Flügel stand und als „Engel des Herrn" den Hirten
sagen durfte: „Fürchtet Euch nicht!..." Denk, in dieser Weihnacht, die uns
einander verbunden fühlen wird wie noch nie, daran - und denk an meine
lingsstrophe:
„Wohl dir, du Kind ...".
Der Raum, in dem ich lebe, ist mir lieb und vertraut geworden. Nachts
blickt das Gestirn der Kindertage, „Der große Bär", zum Fensterchen
hinein. Die 12-Uhr-Stunde (um 12 Uhr mittags war von jeher ein Treffpunkt
der Gebete von Mutter und Tochter) fühle ich, ohne eine Uhr zu haben. Dank
der hohen Kräfte ist meine körperliche Verfassung weiter gut.Das ist
wichtig, denn die Gerichtsverhandlung steht vor dar Tür.....
Und nun, meine geliebte Mutti, noch einmal die Bitte: Bleib stark. Ich
will es auch bleiben. Und was auch immer kommen mag, ich will nicht daran
zerbrechen, denn es gehört ja mit der heiligen Aufgabe Gottes, an dem ich
nun nicht mehr irre werden kann. Ich füge zwei kleine Gedichte bei, deren
eines vielleicht Anfang ist.
Das klingt vermessen, aber ich hege manchmal die stille Hoffnung, für das
kaum Sagbare neuen und gültigen Ausdruck zu finden, was nichts anderes
heißt als: Dichten, Aber um dahin zu kommen, muß man noch viel, viel
leiden. Grüße alle die lieben, treuen Menschen, die an mich denken und
bleib auch Du gesund und stark in dieser Zeit, die von so vielen, vielen
Menschen so große Opfer verlangt.
Immer und für immer
Dein Kind
Am letzten Lebenstage geschrieben
22. Dezember 1942
Meine unbeschreiblich geliebte Mutti!
Da ich bereits in einem Traum lebe, aus dem ich, glücklich wie ich bin, zu
keiner grausamen Wirklichkeit mehr erwachen muß, fallen mir Worte schwer.
Du bist im Herzen bei mir, ach, könnte ich Dich doch ganz mitnehmen, um
Dir das Leid zu sparen, das ich überwunden habe.
Es kam rasch und unerwartet, aber die Stunden vor Gericht um und jetzt
noch und dazwischen waren so groß, daß ich fühlte, Größeres gibt es nicht
mehr. O Gnade, jungen Leibs zu reifen - Du wirst dieses Gedicht bei meinen
Sachen finden und wirst die tiefe Wahrheit erfühlen.
Ich wachse mit jeder Minute mehr in den Himmel hinein. ... Wenn ich Dich
glaubensvoll lächelnd weiß, ist alles gut. Ich leide überhaupt nicht mehr
und alles ist menschlich erfreulich und ohne Schrecken... Alle Strömungen
meines bunten Lebens fließen zusammen, und alle Wünsche werden erfüllt:
Ich bleibe jung in Eurem Gedächtnis ... Ich brauche nicht mehr zu leiden.
Ich darf sterben wie Christus starb: Für die Menschen
Ich durfte nochmals alles und mehr erleben, was Menschen überhaupt erleben
können. Und - da niemand vor der Erfüllung seiner Aufgabe stirbt — so
konnte ich, aus dem Zwiespalt meiner Natur heraus, eben nur durch dieses
Sterben zur großen Leistung kommen. Liebling, wir bleiben zusammen. Wir
haben uns im Licht gefunden und ich darf Dich jetzt emporziehen, gewachsen
wie Ich bin, so wie Du mich in den letzten Klosterwochen emporzogst.
Ich liebe die Welt, ich habe keinen Haß, ich habe den ewigen Frühling!
Gräm Dich nicht um Dinge, die vielleicht noch hätten getan worden können,
um dies und das — das Schicksal hat meinen Tod gefordert. Ich habe ihn
selbst gewünscht... Ich habe als letzten Wunsch gebeten, daß man Dir meine
„Materie" überläßt. Begrabe sie, wenn es geht, an einem schönen Ort mitten
in der sonnigen Natur ... So, mein Liebling, die Stunde schlägt.
In unendlicher Nähe und Freude -
alle Kraft und alles Licht . . .
Dein Kind
Zweiter Abschiedsbrief, in den letzten Lebensstunden geschrieben, da
Libertas nicht sicher war, ob der andere Abschiedsbrief durch das
Kriegsgericht ausgehändigt werden würde. Dieser Brief wurde später auf
heimlichen Wege zugeführt
Ja, mein Liebling, meine starke, einzige Mamuschka.
Was ich in diesen letzten Tagen erleben durfte, ist so groß und wunderbar,
daß es Worte kaum mehr schildern können.. . . .
Ich weiß jetzt auch um die letzten Dinge des Glaubens und ich weiß, daß Du
in dem Bewußtsein unserer ewigen Verbundenheit stark bist und froh. Dein
Engel, der den Bösen ersticht (Du schicktest ihn mir zum Geburtstag) steht
vor mir...
Wenn ich Dich um eines bitten darf: Erzähl allen, allen von mir. Unser Tod
muß ein Fanal sein. Ihr, Du, mein Schwesterlein, mein Brüderlein, die
Kinderchen — Ihr, die Ihr so nahe seid, in Euch lebe ich ja weiter und
sage Euch mit dem tiefen Ernst der Stunde: Ich fand meine Vollendung,
meinen eigenen Tod, mir hätte keine größere Gnade zuteil werden können als
dies. Und: macht es mir „Drüben" nicht schwer mit Tränen, freut Euch mit
mir.
Ich habe es gut.
Dein Kind
Literatur: Du hast
mich heimgesucht bei Nacht
Abschiedsbriefe und Aufzeichnungen des Widerstandes 1933 -1945
Herausgegeben von Helmut Golwitzer, Käthe Kuhn, Reinhold Schneider