Dostojewski Fjodor Michailowitsch
1821 - 1881
Im März des Jahres 1849
stand Dostojewski zum Tode verurteilt auf dem Semjonow - Platz in Petersburg:
jung, todeswillig. Dreißig Jahre später empfängt er den Tod schweren Herzens:
eine Last unerfüllter Pläne hemmt seinen Gang aus dieser Welt. Es ist ihm nicht
vergönnt, die "Brüder Karamasow", jenes höchste Zeugnis russischen Genies, zu
vollenden.
Er stirbt, die Worte Jesu auf den Lippen: " Halte mich nicht auf - "
Vor ihm lag jene Bibel aus der Sträflingszeit, die bei ihm war in jeder Wirrnis
seines Lebens.
Petersburg, den 19. Dezember 1880.
Sehr geehrter Herr Alexander Fjodorowitsch!
Ich danke Ihnen für Ihren Brief. Sie urteilen sehr richtig, wenn Sie meinen, daß
ich den Grund aller Übel im Unglauben sehe, und behaupte, daß derjenige, der den
Nationalismus verneint, auch den Glauben verneint.
Das trifft ganz besonders auf Rußland zu, denn bei uns ist der Nationale Gedanke
auf dem Christentum begründet.
" Christliches Bauernvolk", " Rechtgläubigkeit Rußland" sind unsere
Grundbegriffe. Ein Russe, der den Nationalismus verneint( und solche gibt es
viele), ist entweder Atheist oder in religiösen Fragen indifferent. Auch
umgekehrt: Ein Atheist oder Indifferenter kann unmöglich das russische Volk und
den russischen Nationalismus begreifen. Unsere wichtigste Tagesfragen lautet:
auf welche Weise kann man diesen Grundsatz auch der gebildeten Gesellschaft
beibringen?
Wenn Sie nur ein Wort in diesem Sinn sprechen wird man Sie entweder auffressen
oder für einen Verräter erklären. Und wen sollen Sie eigentlich verraten haben?
Doch nur eine Partei, die in der Luft schwebt, und für die man sogar keinen
Namen finden kann, denn die Leuten wissen selbst nicht, wie sie sich nennen
sollen. Oder haben Sie das Volk verraten? Nein, ich will schon lieber mit dem
Volke bleiben, denn nur vom Volke ist noch überhaupt etwas zu erwarten, und
nicht von der gebildeten Gesellschaft, die das Volk verneint und die nicht
einmal gebildet ist. Nun kommt aber eine neue Generation, die mit dem Volke eins
sein will. Das erste Zeichen einer wahren Gemeinschaft mit dem Volke ist die
Ehrfurcht und Liebe gegen alles, was das Volk in seiner großen Masse liebt und
ehrt, d. h. gegen seinen Gott und seinen Glauben. Diese neue russische
Intelligenz beginnt, so scheint es mir, gerade jetzt ihr Haupt zu erheben.
Gerade jetzt ist ihre Mitarbeit am allgemeinen Werk notwendig, und sie beginnt
es auch selbst einzusehen.
Weil ich den Glauben an Gott und das Volk predige, will man mich hier vom
Antlitz der Erde verschwinden lassen.
Für jenes Kapitel in den Karamasows ( von der Halluzination), mit dem Sie als
Arzt so zufrieden sind, hat man bereits versucht, mich zu einem Reaktionär und
Fanatiker zu stempeln, der schon beim Glauben an den Teufel angelangt ist.
Die Leute bilden sich in ihrer Einfalt ein, daß das Publikum wie aus einem Munde
ausrufen wird: " Wie, Dostojewski hat schon angefangen über den Teufel zu
schreiben? Ach, diese Abgeschmacktheit, ach, diese Borniertheit! "
Ich glaube, daß es ihnen nicht gelingen wird. Ich danke Ihnen dafür, daß Sie mir
als Arzt die Naturtreue in der Schilderung der psychischen Krankheit meines
Romanhelden bestätigen. Die Ansicht eines Sachverständigen ist mir sehr
wertvoll; Sie werden wohl zugeben, daß Iwan Karamasow unter den gegebenen
Umständen keine andere Halluzination haben könne. Zu diesem Kapitel will ich im
nächsten heft des " Tagebuchs" selbst einige kritische Erklärungen geben.
Mit dem Ausdrucke meiner Aufrichtigen Verehrung bin ich Ihr Ihnen ganz
ergebener
Fjodor Dostojewski
Literatur ; Ilse Linden/ Der letzte Brief Eine
Sammlung letzter Briefe Herausgegeben von Ilse Linden /Erschienen bei
Oesterheld & Co Verlag Berlin 1919