BRIEFE BERÜHMTER MENSCHEN

 

 

Der letzte Brief

BRIEFE BERÜHMTER MENSCHEN

 

Der letzte Brief: der königliche aller Briefe.
 Sein Aroma ist köstlich. Was sonst in armseliger
 Verteilung aus Briefen blüht:
Genialität des  Denkens,
Glaubens Liebens
– im letzten Brief
wird er zu einer  Synthese.
Sein  Pathos ist unerhört  - aber sein Ethos
wächst darüber hinaus. Beide – Pathos und Ethos –
werden aufgenommen in die hohe Stimme
einer nie zu  entwirrenden Mystik.  Es ist das Schicksal
der letzten Takte der neunten Symphonie,
die eingehen in die Seligkeit eines metaphysischen Soprans. ....

 
Ilse  Linden
  Der letzte Brief Eine Sammlung letzter Briefe
Herausgegeben von Ilse Linden /Erschienen bei Oesterheld & Co Verlag
Berlin 1919
 
 

 





 

Goethe Johann Wolfgang
1749 -1832


 


Von dem Tage ab, ein ein Blutsturz den Körper des 81 jährigen Goethe erschüttert hatte, betrachtet er selbst ein Leben nur noch als " reines Geschenk". Zwei Jahre Frist bleiben ihm. Jahre , die nichts Geringeres bringen als als die Vollendung des zweiten Teiles " Faust" - und das vierte Buch "Dichtung und Wahrheit". - Bis zum Ende ruht diese ungeheure geistige Kraft keinen Augenblick.

Den letzten Geburtstag verbringt er in Ilmenau. - Hier überwältigt ihn ahnende Stimmung. Fünfzig Jahre vorher hat er das Gedicht" Über allen Wipfeln ist Ruh" in die Wand des Bretterhäuschens auf dem Gickelhahn gekerbt. Er lies es und über seine Lippen stürzten die Worte: " Ja warte nur, bald ruhest du auch!" Das folgende Frühjahr bringt die tödliche Erkrankung.
Am 22. März 1832 - Mittags ½ 12 Uhr- geschieht Goethes letzter Atemzug.


Weimar, den 17. März 1832

Nach einer langen unwillkürlichen Pause beginne ich folgendermaßen, und doch nur aus dem Stegreif. Die Thiere werden durch ihre Organe belehrt, sagten die Alten. Ich setze hinzu: die Menschen gleichfalls, sie haben jedoch den Vorzug, ihre Organe wieder zu belehren. Zu jedem Thun, daher zu jedem Talent, wird ein Angebornes gefordert, das von selbst wirkt und die nöthigen Anlagen unbewußt mit sich führt, deswegen auch so geradehin fortwirkt, daß, ob ob es gleich die Regel in sich hat, es doch zuletzt ziel -und zwecklos ablaufen kann. Je früher der Mensch gewahr wird, daß es ein Handwerk, daß es eine Kunst gibt die ihm zur geregelten Steigerung seiner natürlichen Anlagen verhelfen, desto glücklicher ist er. Was er auch von außen empfangen, schadet seiner eingeborenen Individualität nichts. Das beste Genie ist das, welches alles in sich aufnimmt, sich alles zuzueignen weiß, ohne daß es der eigentlichen Grundbestimmung, demjenigen, was man Charakter nennt, im mindesten Eintrag thue, vielmehr solches noch erst recht erhebe, und dadurch nach Möglichkeit befähige.

Hier treten nun die mannigfaltigen Bezüge ein zwischen dem Bewußten und Unbewußten. Denke man sich ein musikalisches Talent, das eine bedeutende Partitur aufstellen soll: Bewußtsein und Bewußtlosigkeit werden sich verhalten wie Zette und Einschlag, ein Gleichnis, das ich so gerne brauche.

Die Organe der Menschen durch Übung, Lehre, Nachdenken, Mislingen, Fördernis und Widerstand und immer wieder Nachdenken, verknüpfen ohne Bewußtseins in einer freien Thätigkeit das Erworbene mit dem Angeborenen, so daß es eine Einheit hervorbringt, welche die Welt in Erstaunen setzt. Dieses Allgemeine diene zur schnellen Beantwortung Ihrer Frage und zur Erläuterung des wieder zurückkehrenden Blättchens. Es sind über 60 Jahre, daß die Conzeption des Faust bei mir jugendlich, von vornherein klar, die ganze Reihenfolge hin weniger ausführlich vorlag.
Nun hab' ich die Absicht immer sachte neben mir hergehen lassen, und nur die mir gerade interessantesten Stellen durchgearbeitet, so daß im zweiten Theile Lücken blieben, durch ein gleichmäßiges Interesse mit dem Übrigen zu verbinden. Hier trat nun freilich die große Schwierigkeit ein, dasjenige durch Vorsatz und Charakter zu erreichen, was eigentlich der freiwilligen thätigen Natur allein zukommen sollte.
Es wäre aber nicht gut, wenn es nicht auch nach einem so lange thätig nachdenkenden Leben möglich geworden wäre, und ich lasse mich keine Furcht eingehen: man werde das Aeltere vom Neuern, das spätere vom Früheren unterscheiden können: welches wir dann den künftigen Lesern zur geneigten Hinsicht übergeben wollen. Theilen Sie mir aber auch etwas von Ihren Arbeiten mit. Riemer ist, wie Sie wol wissen an die gleichen und ähnlichen Studien geheftet, und unsere Abendgespräche führen oft auf die Grenzen dieses Faches.
Verzeihung diesem verspäteten Blatte!

Ungeachtet meiner Abgeschlossenheit findet sich selten eine Stunde, wo man sich diese Geheimnisse des Lebens vergegenwärtigen mag. Ganz ohne Frage würd' es mir unendliche Freude machen, meinen werthen, durchaus dankbar anerkannten, weitvertheilten Freunden auch bey Lebzeiten diese sehr ernsten Scherze zu widmen, mitzuteilen und ihre Erwiderung zu vernehmen. Der Tag aber ist wirklich zu absurd und confus, daß ich mich überzeuge meine redlichen, lange verfolgten Bemühungen um dieses seltsame Gebäu würden schlecht belohnt und an den Strand getrieben, wie ein Wrack in Trümmern daliegen und von dem Dünenschutt der Stunden zunächst überschüttet werden.

Verwirrende Lehre zu verwirrtem Handel waltet über der Welt, und ich habe nichts angelegentlicher tu thun als dasjenige was an mir ist und geblieben ist, wo möglich zu steigern und meine Eigentümlichkeiten zu cohibieren, wie Sie es, würdiger Freund, auf Ihrer Burg ja auch bewerkstelligen.

G.



 


Literatur;  Ilse Linden/ Der letzte Brief Eine Sammlung letzter Briefe Herausgegeben von Ilse Linden /Erschienen bei Oesterheld & Co Verlag Berlin 1919
 


 

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