Goethe Johann Wolfgang
1749 -1832
 
Von dem Tage ab, ein ein Blutsturz den Körper des 81 jährigen Goethe erschüttert 
hatte, betrachtet er selbst ein Leben nur noch als " reines Geschenk". Zwei 
Jahre Frist bleiben ihm. Jahre , die nichts Geringeres bringen als als die 
Vollendung des zweiten Teiles " Faust" - und das vierte Buch "Dichtung und 
Wahrheit". - Bis zum Ende ruht diese ungeheure geistige Kraft keinen Augenblick.
Den letzten Geburtstag verbringt er in Ilmenau. - Hier überwältigt ihn ahnende 
Stimmung. Fünfzig Jahre vorher hat er das Gedicht" Über allen Wipfeln ist Ruh" 
in die Wand des Bretterhäuschens auf dem Gickelhahn gekerbt. Er lies es und über 
seine Lippen stürzten die Worte: " Ja warte nur, bald ruhest du auch!" Das 
folgende Frühjahr bringt die tödliche Erkrankung. 
Am 22. März 1832 - Mittags ½ 12 Uhr- geschieht Goethes letzter Atemzug.
Weimar, den 17. März 1832
Nach einer langen unwillkürlichen Pause beginne ich folgendermaßen, und doch nur 
aus dem Stegreif. Die Thiere werden durch ihre Organe belehrt, sagten die Alten. 
Ich setze hinzu: die Menschen gleichfalls, sie haben jedoch den Vorzug, ihre 
Organe wieder zu belehren. Zu jedem Thun, daher zu jedem Talent, wird ein 
Angebornes gefordert, das von selbst wirkt und die nöthigen Anlagen unbewußt mit 
sich führt, deswegen auch so geradehin fortwirkt, daß, ob ob es gleich die Regel 
in sich hat, es doch zuletzt ziel -und zwecklos ablaufen kann. Je früher der 
Mensch gewahr wird, daß es ein Handwerk, daß es eine Kunst gibt die ihm zur 
geregelten Steigerung seiner natürlichen Anlagen verhelfen, desto glücklicher 
ist er. Was er auch von außen empfangen, schadet seiner eingeborenen 
Individualität nichts. Das beste Genie ist das, welches alles in sich aufnimmt, 
sich alles zuzueignen weiß, ohne daß es der eigentlichen Grundbestimmung, 
demjenigen, was man Charakter nennt, im mindesten Eintrag thue, vielmehr solches 
noch erst recht erhebe, und dadurch nach Möglichkeit befähige. 
Hier treten nun die mannigfaltigen Bezüge ein zwischen dem Bewußten und 
Unbewußten. Denke man sich ein musikalisches Talent, das eine bedeutende 
Partitur aufstellen soll: Bewußtsein und Bewußtlosigkeit werden sich verhalten 
wie Zette und Einschlag, ein Gleichnis, das ich so gerne brauche.
Die Organe der Menschen durch Übung, Lehre, Nachdenken, Mislingen, Fördernis und 
Widerstand und immer wieder Nachdenken, verknüpfen ohne Bewußtseins in einer 
freien Thätigkeit das Erworbene mit dem Angeborenen, so daß es eine Einheit 
hervorbringt, welche die Welt in Erstaunen setzt. Dieses Allgemeine diene zur 
schnellen Beantwortung Ihrer Frage und zur Erläuterung des wieder 
zurückkehrenden Blättchens. Es sind über 60 Jahre, daß die Conzeption des Faust 
bei mir jugendlich, von vornherein klar, die ganze Reihenfolge hin weniger 
ausführlich vorlag. 
Nun hab' ich die Absicht immer sachte neben mir hergehen lassen, und nur die mir 
gerade interessantesten Stellen durchgearbeitet, so daß im zweiten Theile Lücken 
blieben, durch ein gleichmäßiges Interesse mit dem Übrigen zu verbinden. Hier 
trat nun freilich die große Schwierigkeit ein, dasjenige durch Vorsatz und 
Charakter zu erreichen, was eigentlich der freiwilligen thätigen Natur allein 
zukommen sollte. 
Es wäre aber nicht gut, wenn es nicht auch nach einem so lange thätig 
nachdenkenden Leben möglich geworden wäre, und ich lasse mich keine Furcht 
eingehen: man werde das Aeltere vom Neuern, das spätere vom Früheren 
unterscheiden können: welches wir dann den künftigen Lesern zur geneigten 
Hinsicht übergeben wollen. Theilen Sie mir aber auch etwas von Ihren Arbeiten 
mit. Riemer ist, wie Sie wol wissen an die gleichen und ähnlichen Studien 
geheftet, und unsere Abendgespräche führen oft auf die Grenzen dieses Faches.
Verzeihung diesem verspäteten Blatte!
Ungeachtet meiner Abgeschlossenheit findet sich selten eine Stunde, wo man sich 
diese Geheimnisse des Lebens vergegenwärtigen mag. Ganz ohne Frage würd' es mir 
unendliche Freude machen, meinen werthen, durchaus dankbar anerkannten, 
weitvertheilten Freunden auch bey Lebzeiten diese sehr ernsten Scherze zu 
widmen, mitzuteilen und ihre Erwiderung zu vernehmen. Der Tag aber ist wirklich 
zu absurd und confus, daß ich mich überzeuge meine redlichen, lange verfolgten 
Bemühungen um dieses seltsame Gebäu würden schlecht belohnt und an den Strand 
getrieben, wie ein Wrack in Trümmern daliegen und von dem Dünenschutt der 
Stunden zunächst überschüttet werden.
Verwirrende Lehre zu verwirrtem Handel waltet über der Welt, und ich habe nichts 
angelegentlicher tu thun als dasjenige was an mir ist und geblieben ist, wo 
möglich zu steigern und meine Eigentümlichkeiten zu cohibieren, wie Sie es, 
würdiger Freund, auf Ihrer Burg ja auch bewerkstelligen.
G.