MÖRIKE EDUARD
1804 - 1875
Eduard Mörike, der
große Lyriker, wurde in Ludwigsburg als Sohn eines Arztes geboren.
Bis zum Tode des Vaters war Eduard Kindheit glücklich; dann kam die
Not, und der Knabe wurde bei Verwandten erzogen. Mit vierzehn Jahren
wurde er auf das theologische Seminar in Urach geschickt. Doch
erkrankte er hier an Scharlach, und seit dieser Zeit war seine
Gesundheit nicht mehr fest.
Als Student in Tübingen begann er zu dichten. Traurige Erlebnisse
gaben die seelische Grundlage für seine ersten Dichtungen; seine
tiefe Jugendliebe verwandelte sich in Leid; seine von ihm innig
geliebte Base verlobte sich plötzlich mit einem andern. Dazu kam der
plötzliche Tod eines jüngeren Bruders. Auch noch eine andere
Enttäuschung erschütterte ihn damals. Er fand einst ein schönes
Mädchen ohnmächtig am Wege liegen. Eine heftige Liebe zu der
geheimnisvollen Schönen erwachte sofort. Aber sie war seiner
unwürdig, und so floh er von ihr.
Mit zweiundzwanzig Jahren bestand er die Prüfung und wurde Vikar und
blieb es lange, ohne eine Pfarrstelle zu erlangen. Nach einigen
Jahren macht er die Bekanntschaft der Pfarrerstochter Luise rau. Er
liebt sie und verlobt sich mit ihr. Alle lähmenden Enttäuschungen
sind vergessen; der Mensch wie der Dichter erwacht aufs neue unter
dem Morgengruß dieser Liebe, deren Glück sich in seinen Briefen an
Luise spiegelt. Wir bringen deren zwei, die er als fünfundzwanziger
schrieb.
Vier Jahre dauerte die Verlobung; dann wurde sie gelöst, besonders
weil sich für Mörike noch immer keine Aussicht bot, eine Familie
ernähren zu können. Ein paar Monate später wurde er ganz unerwartet
zum Pfarrer in Cleversulzbach ernannt. –Mörike hat sich als
Siebenundvierziger mit einer anderen Frau verheiratet, jedoch ohne
glücklich zu werden.
ERSTER BRIEF
Plattenhardt,
2. September 1829.
Mein Kind! Daß man die Reise von Bonlanden bis Plattenhardt ohne große
Fährlichkeit zurücklegen kann, daß versteht sich eigentlich bei jedermann,
ausgenommen bei Bauern und Schulmeistern, die von Markt heimkommen, und bei
Vikaren, die warm von der liebsten Munde schieden. Indessen begegnete mir
nichts. Und halb elf Uhr war ich an Ort und Stelle. Die 1. deinigen hatte mich
bänglich erwartet; sie waren seit heute früh nicht vom Fenster weggekommen, und
ein erwärmender Tee stand schon bereit….
Du erstaunst über das schlechte Papier, worauf ich unsere Korrespondenz mit Dir
einleite, aber 1. hab ich bis jetzt kein anderes. 2. ist es der antike Sitte
analog, daß einsam trauernde Liebhaber den Bart (und also auch das Papier) nicht
beschneiden, 3. ist mein Brief nur das Makulatur – Kouvert zu einem äußerst
feinen Gratulationsschreiben, das hier uneröffnet beiliegt.
Es ist ohne Zweifel ein carmen von F. Vilcher, das ich zu lesen recht begierig
bin. Schicks uns doch zur gemeinschaftlichen Erbauung durch die Botin, etwa in
einer Abschrift von Louis!
Wie kamst Du nach Hause? Trockenen Fußes gewiß und trockenen Auges noch
gewisser. Fünf Tage weiß ich mich schon auch zu trösten, aber das ist immer noch
eine gar zu leichte Vorschule für die Zukunft.
In der Scheue meiner Fenster gegenüber hör ich dreschen: ein traulicher,
winterliche Klang, nach dessen Takte das Herz sich so recht genügsam einspinnen
kann! Ich knüpfe immer einen ganzen Scharm von wehmütig süßen Erinnerungen an
diesen Ton, die bis in meine tiefe Kindheit fortlaufen. Dieselbe einförmige
Melodie, die mir alle Herbste meines Lebens wieder neu war, wie wunderbar
überrascht sie mich in dieser entscheidenden Epoche!
Sie mahnt mich an alles, was in 20 Jahren an mir vorüber ging, was ich gefunden
und verloren habe, was an mir verändert wurde, und was unveränderlich wie die
Totalempfindung meines ursprünglichen Wesens, an mir geblieben ist.
Da fühl ich so deutlich, wie vieles bloß als zufälliges Mittel zur Entwicklung
des inneren Menschen Wert hatte, das man lange Zeit als höchsten Glanzpunkt des
Wesens selber wert und heilig gehalten; und doch musste er vergehen, und man hat
noch von Glück zu sagen, wenn die alles enttäuschende Zeit nicht den ganzen
Goldfirnis von den Gestalten abstreifte, wenn man immer noch den Mut haben darf,
die alten Zaubergärten zu durchwandeln und an manches verwilderte Monument die
nachträumende Stirne anzulehnen. Aber dabei kann einem nur dann wohl werden,
wenn das neue Paradies schon angelegt und bereit ist, das uns für alle
Vergangenheit entschädigen soll. So ist mir, so darf es auch Dir sein.
Mein Kind, wann werde ich denn aufhören können, mich immer aufs neue wieder über
Dich und mich zu verwundern und zu fragen:Wie ist das alles geschehen?! Aber ich
wollte, die Zeit käme nie, wo ich das immer frage! Ich meine, das wäre schon ein
Vorbote des Todes unserer Liebe. Oder muß die Liebe nicht mit jedem neuen Morgen
über sich selber, als über ein Wunder, erstaunen und freudig zusammenschrecken?
Ist sie bei Dir anderer Art? Es mag sein, und ich glaube es fast, aber es macht
mich nicht bange. „ Gerne denk ich mir Dich stets als ein eigenes Kind.“
Ich muß abbrechen, sonst mach ich Dir den Kopf toll mit Ergießungen, die Du
nicht liebst. Morgen nachts neun Uhr wird mein Schatten im Widerschein Eures
Lichts an der Kirchenwand neben dem Deinigen erscheinen, da sprich ein wenig mit
ihm! Ich wills in der Ferne hören. Hab ich doch heut schon mit Deinem
blaugestreiften Kleid leise Gespräche geführt, das vor dem mittleren Fenster in
der Wohnstube an der Stange trocknet. Wär es phantastischen Hoffnung, da ß noch
ein par geistige Atome Deines Wesens in den Fäden stecken. Nun adieu! Lebet alle
wohl! Tausendmal geküsst von
Deinem treuen Eduard.
Plattenhardt, 9.
November 1829.
Es ist nachts 11 Uhr; ich war schon zu Bette, konnte aber nicht in Schlaf
kommen, zündete Licht an und rede nun noch ein wenig mit Dir; morgen früh hätt
ich den Bauern ohnehin nicht fortgelassen, ohne Dir für Dein Gestriges gedankt
zu haben. Ja, Dein gestriges Briefchen! Sieh, mein Kind ich sage Dir, und das
musst Du buchstäblich für Wahrheit nehmen, ich habe nie in meinem Leben, daß ich
wüsste, ein geschriebenes Wort gelesen, das mein ganzes Wesen so entzückt, so
rein über sich selbst erhoben hätte wie dies. Was soll ich noch weiter sagen?
Amen also, und glaube Du’s !
Höchst merkwürdig war mir das wunderbare Zusammentreffen unseres Nachblickens,
wovon Du schreibst, um so mehr, als ich mich nur dies einzigemal umkehrte und
demnach in eben dem Augenblick, da Du ans Fenster trafst. „ Wunder hat die Liebe
viel“, sagt Herr Ludwig Uhland.
Kaum hatte ich Deinen Brief bis auf den letzten verborgensten Honigtropfen
ausgesogen und jede Silbe, jeden leisen Gedankenübergang mikroskopisch
durchdrungen, so hör ich auf dem Gang eine derbe Stimme, die nach mir fragt. Ein
Abendbesuch von Benkiser. Ich gestehe, daß meine Stirn sich ein wenig verzog,
bis die Stimme im Zimmer war und ich das angenehme Gesicht von der Welt machen
musste. Sage nur der lieben Mama und Rike, ich sei hinlänglich gestraft für
meine Unhöflichkeit an seinem frühern Abend denn die Visite blieb wieder bis¾
11Uhr, und ich durfte diesmal die Figur am Ofen nicht wohl spielen. Ich
schwätzte recht brav, entwickelte sogar die Lehre vom Somnabulismus, und mein
Gast ließ sich auf seine Art hierüber vernehmen.
Eine seiner Perioden habe ich mir wörtlich gemerkt. „ Es ist bedenklich, ja, ja!
Wenn man nämlich die Sach bedenken tut. Aber, Herr Vikar, gar nichts mehr, es
glauben heutigestags viele Menschen, kein Gott nicht einmal, und nach’m Tod
sei’s halt aus – und doch wenn man nur zum Beispiel d’G’stirn betrachtet – ‚s
könnt’s jeder aus seim eigene Leib, seine Sinne, nämlich sein Verstand
abnehmen!’s ist drum bedenklich, wenn man das Ding so bedenkt.“
Und als in der Weise nacheinander fort. Nach zehn Uhr stand ich einmal mit
einem erzwungenen Gähnen rasch vom Stuhl auf.
Herr Benkiser blieb aber ruhig sitzen, und als er sich zuletzt doch empfahl,
gab er mir auf der Treppe nicht undeutlich zu verstehen, daß ich dasselbe
Amusement künftig recht oft haben werde.
Nun nahm ich Deine Worte noch einmal vor und las dann noch eine Stunde in
Eschenmeyer. Meinem 1. Schwager denk laß ich sagen, daß das Buch auf jeden Fall
ungemein interessant und lesenswürdig sei, daß es mich übrigens ebenso sehr
abstoße als anziehe. So viel herrliche, weite Ansichten und doch wieder
unerträglich Enges!
Ich schrieb einige Proben für Denk ab, werde ihm aber, womöglich, das Buch
selbst mitteilen. Grüß ihn, sein 1. Frau und alles aufs zärtlichste! Schreib
mich auch von der Stimmung der besten Mutter!
Gut daß Du nach Nürtlingen gehst! ich mag’s der meinigen so gönnen. Liebe sie
nur recht von Herzen! Sie verdiet’s. An Onkel Georgii hab ich geschrieben. Tat
ich recht, von Dir folgendes zu sagen? „ Luise, welche Sie durch mich so
liebevoll auf die Gesinnung ihres seligen Vaters hinweisen lassen( ein Auftrag,
den ich gewiß mit Freuden vollziehe), sagt mir jedesmal mit großer Bedeutung von
der Aehnlichkeit, welche sie zwischen Ihnen und dem Verewigten finden will, und
ich fühle dies hier an, um die gedoppelte Achtung zu bezeichnen, womit sie Ihnen
ergeben ist.
…Etwas später
Jetzt gute Nacht, Luise, meine Luise! Dieser Name läuft, wie ein sanftes Echo,
den Tag über und die Nacht durch mein Innerstes. Es ist eine heilige Stille um
mich. Draußen liegt alles klar, wie am Tag. Der Mond zeichnet die drei vordern
Fenster hell auf den Boden der lieben Stube, worein diesen Augenblick vielleicht
ein lebendiger Traum Dich mit mir einführt; vielleicht ist jetzt ein heller
Sommermorgen unter Deinem geschlossenen Augenlide - ach, wie einst, wenn ich
früh herüber kam und Dich allein bei der Arbeit schon unterm Fenster sitzend
fand, selber blühend Du wie der Morgen. Wir sind einander noch fremde, höfliche
Gestalten, Du grüßest mich halblaut von fern. - Erwach! Erwache, mein Kind, und
gedenke, daß ich Dein geworden bin seit jener kurzen Zeit!
Welche eine unbeschreiblich schöne Nacht! Ich öffne ein Fenster, höre die
Melodie des Brunnens, blicke aufs Gärtchen hinunter. Alles so leicht, so geistig
in Schatten und Licht! Wie schön schwimmend sind alle Gegenstände.
Könnt ich Dich eine Minute lang haben! Nicht einen Kuß gäben wir uns, sondern
Stille, staunend, andachtvoll säh ich Dich mir an die Seite gezaubert wie eine
leichte Verkörperung meines heiligsten Gedankens, die ich nicht zu berühren
wage, die leisen Trittes wieder entweicht, aber in mir eine unnennbare Seligkeit
zurücklässt, die mich in den Schlaf hinüber begleitet. Ist mir aber nicht jetzt
schon so zu Mute? Tritt, o Kind, diesen Augenblick herein! Und ich will nicht
erschrecken, will nicht fragen: Bist Du Luftbild oder Leben? Ich wäre auf jedes
Wunder gefasst! ---
Zwölf Uhr! Schlaf wohl.
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Literatur; Jugenbriefe berühmter Männer Ausgewählt von Joh. Rohr Verlag
Buchgemeinde Berlin 1924
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