SCHOPENHAUER ARTHUR
( 1766 - 1860 )
An seine Mutter 22. Oktober 1806
Es soll so sein, nichts soll
standhalten im vergänglichen Leben: kein unendlicher Schmerz, keine ewige
Freude, kein bleibender Eindruck, kein dauernder Enthusiasmus, kein hoher
Entschluß, der gelten könnte fürs Leben! Alles löst sich auf im Strom der Zeit.
Die Minuten, die zahllosen Atome von Kleinigkeiten, in die jede Handlung
zerfällt,, sind die Würmer, die an allem Großen und Kühnen zehren und es
zerstören. Das Ungeheuer Alltäglichkeit drückt alles nieder, was emporstrebt. Es
wird mit nichts Ernst im menschlichen Leben, weil der Staub es nicht wert ist.
Was sollten auch ewige Leidenschaften dieser Armseligkeiten wegen?
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Gedanken und Aussprüche 1912
Verlag Julius Zeitler Leipzig
Letzter Brief
Meine jungen Freunde,
dass Sie in jugendlichem Alter, in einer aller Philosophie sehr heterogene Lage,
endlich auch noch in einer entlegenen Oesterreicher Provinz, sich so ernstlich
mit meinen Lehren beschäftigen, hat mich erstaunt u. höchst erfreut, zudem auch
mir von Ihnen eine vortheilhafte Meinung gegeben, Daher ich nicht unterlasse
Ihnen zu antworten.
Ihr Problem lässt sich sehr leicht zurückführen auf einen Schluß, der formel
richtig ist u. dessen Prämissen wahr sind, - während die Konklusion eine
offenbar falsche Aussage ist. Dies entsteht daraus, daß dabei eine Amphibolie
der Begriffe vorgeht, indem der Wille als individuelle Erscheinung genommen,
sodann aber wieder in seiner Eigenschaft als Ding an sich gefasst wird.
In diese letztern Beziehung wird jedoch der Gegenstand Transzsendent, d.h. er
geht über alle Möglichkeit unsers Verständnisses hinaus; weil über die mögliche
Erfahrung hinaus die Formen unsers Intellekts, Raum und Zeit, Kausalität, nicht
mehr anwendbar sind.
Diese Formen behält jedoch Ihre Argumentation bei, indem sie die Prädikate
Ganzes und Theil, Einheit und Zahl, Ursach u. Wirkung, als den Willen als Ding
an sich anwendet.
Sie fassen ihn z. B. mittels unsrer Anschauungsform Raum, indem Sie quantitativ
von ihm reden u. sagen: Da der Wille in jedem Individuo ganz vorhanden ist, muß
mit seiner Aufhebung in diesem die ganze Welt aufgehoben seyn.“
Wenn Sie aber die Sache so rein quantitativ auffassen, hätten Sie
konsequenterweise, höher obn anfangen u. sagen sollen: 2 nimmermehr kann der
ganze u. untheilbare Wille ganz in jedem von zahllosen Individuen seyn.“
Imgleichen geht ihre Argumentation eigentlich auch auf die Kausalität, der der
aufgehobene Wille auf die Erscheinungswelt ausübt. Ebenso nimmt sie die Zeit in
Betrachtung, in dem sie sagt: „ nach dem Eintritt einer Verneinung des Willens
muß u. s. w.“
_ Diese gesammte Amphibolie entsteht daraus, da Ihre Argumentation sich auf die
Gränze des unsrer Erkenntniß Zugänglichen u. des ihr Unzugänglichen,
Transzcendeten, gestellt hat u. nun die Begriffe über diese Gränze hin u. her
wirft. Ich meinerseits habe mich vor aller Transzcendenz gehütet u. immer nur
von Dem geredet, was sich in der Erfahrung nachweisen lässt: so habe ich den
Willen in seiner Bejahung gezeigt, nebst der an dieser hängenden Erscheinung,
dieser Welt, als ihrer Folge; sodann das Ethische Phänomen seiner Verneinung:
hier aber kann ich auf die Folgen nicht weiter schließen, als negativ, u. da
sind sie für uns - -Nichts.
Ob nun die den Willen bejahenden Individuen u. das ihn ausnahmsweise verneinde
sich in der Zeit als vor oder nach einander darstellen, macht keinen
Unterschied, so wenig wie daß sie im Raum neben einander auftreten müssen. Dies
Alles geschieht bloß in der Erscheinung u. vermöge ihrer Formen.
Für den in der Verneinung begriffenen individuellen Willen habe ich die negative
Folge ausgesprochen, Bd.1.p.452,3te Auflage [G.A. II, 452 2 te Aufl: p. 432 u.
damit die äußerste Gränze, zu der unsre Fassungskraft reicht, berührt.
Alles hier Gesagte wird Ihnen um so mehr einleuchten, je mehr Sie sich mit der
Kritik der reinen Vernunft bekannt gemacht haben. Hinsichtlich der
unüberschreitbaren Gränze aller unsrer methaphysischen Erkenntnisse, empfehle
ich Ihnen die 3 ersten Seiten des letzten Kapitels des 2 ten Bandes meines
Hauptwerks aufmrksm zu lesen. Zur Aufhellung Ihres Problems ist auch zu
berücksichtigen Bd: 2 p. 698, 3te Auflage, 2 te Aufl.: p. 607 [ G. A. III, 700]
„ Die Individualität u. s. w.
[ Einige Personalnotizen.]
Von herzen wünsche ich Ihnen Glück u. Heil in Ihrer militärischen Laufbahn, u.
dass der philosophische Geist Sie durch das ganze Leben begleiten möge.
Arthur Schopenhauer
Frankfurt am Main d. 1. September 1860.